Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität

Johannes Freiland, 14.10.2024

6. Hebräische und Aramäische Sprache

Der Begriff „Hebräer“ deutet auf die hebräische Sprache als gemeinsames Merkmal. Juden unterscheiden sich von Christen und Muslimen darin, daß sie Thora und Tanach eben im ursprünglichen Hebräisch lesen und vorlesen/hören, was ihnen eine einzigartige Perspektive auf diese Texte gibt, zumal auch der Klang des Hebräischen seine unmittelbare Wirkung hat. Die Inhalte in eine andere Sprache zu übertragen bedingt einen erheblichen Verlust an Verständnis und Klangwirkung (aus demselben Grunde wird auch in einer Moschee der Koran stets in Arabisch vorgelesen).

Wenn wir nun vom Hebräischen reden, dann gilt es mehrere Dinge zu beachten:

  • Zur semitischen Sprachfamilie gehören neben Hebräisch auch Aramäisch und Arabisch. In Kanaan-Palästina kamen diese Sprachen nebeneinander vor, durchsetzt von ägyptischen, babylonischen, assyrischen, persischen, griechischen und später lateinischen Sprachelementen, da das Land all diesen Großreichen einmal unterworfen war.
  • Modernes Hebräisch (Ivrit) unterscheidet sich stark von Alt-Hebräisch. Das Alt-Hebräisch der Bibel ist eine tote Sprache und wurde bereits zu Jesu Zeiten nur noch im Tempel benutzt. Nur die Schriftgelehrten (Rabbiner / Pharisäer) beherrschen sie. Jedoch echte althebräische Muttersprachler, die den gesamten Bedeutungsgehalt fühlen könnten, gibt es seit über 2000 Jahren nicht mehr.
  • Zu Jesu Zeiten war Aramäisch die Volks- und Muttersprache der Hebräer, es wurde im gesamten Nahen Osten als Lingua Franca gesprochen. In dieser Sprache hat auch er gelehrt.
  • Jeder hebräische Name in der Bibel hat eine Bedeutung.
  • Jedes alt-hebräische Wort hat mehrere Bedeutungen, d.h. Hebräisch ist un-eindeutig, wie das verwandte Aramäisch.
  • Die hebräische Schrift folgt einem gänzlich anderes Konzept als unsere europäische (lateinisch-griechische) Schriftfamilie
  • In der hebräischen Schrift ist jeder Buchstabe auch eine Zahl. Aus den Zahlen erschließen sich dem Kundigen weitere Bedeutungen.

Die Bedeutung der Namen

Die vielen Namen, die in der Bibel vorkommen, sind für uns bloß Klänge ohne Sinn. Für einen Hebräischkundigen dagegen trägt jeder Name auch Bedeutung. Wenn ein Hebräer also die Bibel liest, dann liest er aus den Namen zusätzliche Bedeutungsebenen, die uns völlig entgehen.

Zum Vergleich: wenn in einem deutschen Märchen die Hauptperson den Namen „Wolfgang Hinkefuß“ trägt, dann sehen wir vor unserem geistigen Auge den Wolf, wir sehen den trottenden Gang eines Wolfes, und wir sehen eine Körperbehinderung, die diesen Mann hinken läßt. Wir wissen also allein aus dem Namen schon sehr viel über diese Person. Würde dagegen ein Italiener die Worte „Wolfgang Hinkefuß“ hören, wäre es bloß ein sinnloser Klang.

So bedeutet Jerusalem (Yere-Shalem) „das Ganze sehen“, also die sichtbare Manifestation und Präsenz der Ganzheit [BEN]. Mose (Mosche) bedeutet „(Gott hat) gerettet“ „(Gott hat) geboren“ oder „(aus dem Wasser) herausgezogen“. Mose hatte zwei Söhne namens Gershom („ein Fremder dort“) und Elieser („Gott ist Hilfe“). Moses älterer Bruder Aaron („groß ist der Name“ oder „Anführer“ oder „Beschützer“) sprach für ihn, weil es Mose schwerfiel, öffentlich zu reden. Wir sehen an diesen wenigen Beispielen, wie sehr alle Namen mit Sinn aufgeladen sind, so daß ein Hebräer tatsächlich eine andere und vielschichtige Geschichte liest.

Der Gottesname

Im Nahen Osten wurde Gott ursprünglich El oder Al genannt, was „Jener“, „der/die/das All-Eine“ oder „Jene(s) Eine“ bedeutet, das „sich selbst durch alle Dinge einzigartig ausdrückt“. Aus dieser Wortwurzel entspringen die heiligen Namen Elat (Altkanaanitisch), Elohim (Hebräisch), Alaha (Aramäisch) und Allah (Arabisch). [DOK]

Das sog. Tetragramm JHWH (hebräisch יהוה) ist der feststehende Eigenname des Volksgottes Israels im Tanach, bestehend aus den vier hebräischen Konsonanten Jod, He, Waw, He. Eine Deutung dieser vier Zeichen liefert innerhalb der Bibel allein 2. Mose 3:14 [BUB4]

Gott sprach zu Mosche: Ich werde dasein, als der ich dasein werde. […]
Und er sprach: So sollst du zu den Söhnen Jißraels sprechen: ICH BIN DA schickt mich zu euch. […] Das ist mein Name in Weltzeit.

Die Hebräer sprachen dies Tetragramm jedoch niemals laut aus – es ist in der Mischna sogar explizit verboten – sondern ersetzten es durch Umschreibungen wie Elohim („Gott“ bzw. „Götter“, als Plural Majestatis), im Gebet Adonai („meine Herren“), ha-qadosh („der Heilige“), allgemein ha-Schem („der Name“).

Hört man einen Rabbi oder israelischen Politiker reden, wird man oft das Wort Haschem hören. Entweder weil der Sprecher sich fragt (oder zu wissen behauptet), was Haschem von den Juden gerade will, oder verbunden mit dem Wunsch und der Drohung, daß Haschem den Ungläubigen oder den Kritikern Israels zeigen wird, wo der Hammer hängt.

Die Wörter Jehova und Jahwe(h) sind christliche Versuche, das Tetragramm sprechbar zu machen, sie sind nicht jüdischen Ursprungs. Allerdings haben die jüdischen Theologen Moses Mendelssohn und Lazarus Goldschmidt in ihren deutschen Übersetzungen diese Formen dann übernommen.

Luther übersetzte JHWH meist mit HERR, was den Inhalt gar nicht wiedergibt.

Vieldeutigkeit

Wir hatten erwähnt, daß die semitischen Sprachen vieldeutig sind und nicht eindeutig oder ‚korrekt‘ in europäische Sprachen übersetzt werden können. Zum Beispiel kann das hebräisch/aramäische Wort schem übersetzt werden mit: Name, Licht, Klang, Ansehen, Ruhm, Segen, Erbe, Erfahrung. Ein Muttersprachler kann diese Vielfalt der Bedeutungen spüren, wenn das Wort erklingt. Werden mehrere Wörter zu Sätzen zusammengesetzt und aufeinander bezogen, dann potenziert sich die Vielfalt. Mit einer solchen Vieldeutigkeit konfrontiert, ist es möglich, jedes Wort und jeden Satzteil von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus zu betrachten. Beim Versuch einer Übersetzung kommt man so zu sehr unterschiedlichen Fassungen, die aber alle als ‚richtig‘ gelten können.

Im Folgenden beziehe ich mich auf Neil Douglas-Klotz und sein Buch „Das Vaterunser“ [DOK]. Dieses wichtigste christliche Gebet wurde von Jesus auf Aramäisch gesprochen und ist uns durch das syrisch-aramäische Manuskript des Evangeliums, die „Peshitta-Version“ überliefert, wie sie in der Ostkirche benutzt wird. Die Peshitta steht der Denkweise und Sprache Jesu näher als jede andere (z.B. griechische) Fassung.

Im aramäischen Vaterunser lautet die dritte Zeile:

Têtê malkuthach   (Lutherbibel: „Dein Reich komme“)

Têtê heißt zwar auch „kommen“, schließt aber die Vorstellung von gegenseitigem Verlangen zueinander ein, die Definition eines Zieles, und in der Urbedeutung das Brautbett, wo das Verlangen gestillt wird und zugleich Zeugung stattfindet und Gebären seinen Anfang nimmt. Malkuthach bezieht sich auf das Prinzip der Führung und Leitung, das unser Leben in Richtung Einheit lenkt. Eingeschlossen ist die Vorstellung ausgebreiteter Arme, eines Füllhorns, einer zusammengerollten Spirale voll frischer Energie, die bereit ist zur Entfaltung. Das Wort malkatuh aus derselben Wurzel war Tausende von Jahren vor Jesus im Nahen Osten eine Name für die Große Mutter, ein göttliches Prinzip der Verantwortung, das „ich kann“ sagt. Wer dieses Qualitätsprinzip klar zum Ausdruck brachte, wurde als natürlicher Führer anerkannt und als König oder Königin bezeichnet. Im Hinblick auf die Gemeinschaft bezieht Malkuthach sich auch auf den Rat, mit dessen Hilfe regiert wird, auf die kollektiven Ideale einer Nation oder der ganzen Erde. [DOK] Wir sehen also „das geistige Urbild“ vor uns, aus dem unser Leben entspringt.

In dieser Zeile bitten wir sehnlich um Beistand bei der die Verwirklichung des göttlichen Urbildes, indem wir unsere persönlichen und kollektiven Ideale mit denen des Schöpfers in Übereinstimmung bringen. Damit bewegen wir uns in Richtung der Einheit und Kreativität, wie sie uns aus der Natur bekannt sind.

Wie aber soll man das nun konkret übersetzen? „Dein Reich komme“ ist nicht falsch, erfaßt jedoch nur einen Bruchteil des Bedeutungsraumes. Neil Douglas-Klotz und seine deutsche Übersetzerin Gita Onnen bauen aus der Vielfalt dieser nur zwei Wörter (!) sieben unterschiedliche Übersetzungsmöglichkeiten, alles lange Sätze: [DOK]

  • Erschaffe Dein Reich der Einheit jetzt – durch unsere feurigen Herzen und willigen Hände.
  • Laß Deinen Rat unser Leben regieren und unsere Absicht klären für die gemeinsame Schöpfung.
  • Vereinige unser „ich kann“ mit dem Deinen, so daß wir als Könige und Königinnen alle Kreatur begleiten können.
  • Ersehne mit und durch uns die Herrschaft universaler Fruchtbarkeit auf Erden.
  • Deine Herrschaft entsteht plötzlich, wenn unsere Arme sich ausbreiten, um die ganze Schöpfung zu umarmen.
  • Komm in das Schlafgemach unserer Herzen, bereite uns vor auf die Hochzeit von Kraft und Schönheit.
  • Aus dieser göttlichen Vereinigung laß uns neue Vorstellungen gebären für eine neue Welt des Friedens.

Es gibt also, wie gesagt, viele unterschiedliche Fassungen, die aber alle als ‚richtig‘ gelten können. Umgekehrt: Da man als Europäer beim Lesen von Bibel oder Talmud auf Übersetzungen angewiesen ist, ist man in der seltsamen Lage, daß ein Hebräischkundiger jederzeit behaupten kann, eine Stelle sei unzureichend oder falsch übersetzt, und eigentlich sei etwas Anderes gemeint.

Da es in diesem Text aber primär darum geht, wie zeitgenössische Juden denken und fühlen, läßt sich dieses Problem einfach umgehen, indem man sich eben nicht auf die hebräischen Urtexte oder deren Übersetzungen bezieht und sich auf theologische Diskussionen gar nicht erst einläßt. Stattdessen höre man auf das, was amerikanische Rabbiner ihrem Publikum in Lehrstunden und Interviews auf Englisch erzählen. Da sagen sie uns unzweideutig, wie sie jeweils die Texte auslegen und welche Denk- und Handlungsweise sie daraus ableiten. Beispiel Anhang I.

Die Schrift

Bei der Betrachtung der hebräischen Sprache als Identitätsmerkmal müssen wir die eigentliche, gesprochene Sprache von der Schrift unterscheiden, mehr als bei anderen Sprachen.

Bekanntlich bestehen die hebräischen Schriften ausschließlich aus Konsonanten, die zudem in den ältesten Fassungen ohne Gruppierung angereiht wurden – es gibt also keine Wort- oder Satzeinteilung, sondern bloß eine Kette von Konsonanten[1]. Ein Beispiel [LUD1] aus dem Malabarischen Manuskript, einer der ältesten bekannten Niederschriften der Thora:

Zum Vergleich eine Stelle aus 5. Mose 6:2 in der Lutherbibel; wenn man im Deutschen alle Vokale und Einteilungen wegnimmt, sieht das so aus:

d ß d n h r n d n g t f r c h t s t n d h l t s t l s n r c h t n d g bt d c h d r g bt d n d n k n d r n d n k n d s k n d r l r l b t g f d ß i h r l n g l b t

Die Alt-Hebräische Schrift kann also nicht eindeutig gelesen oder gar ‚korrekt‘ in eine Fremdsprache übersetzt werden. Aus diesem Grund hat die mündliche Überlieferung so überragende Wichtigkeit, denn sie trägt und klärt die Bedeutung und grenzt die Vielfalt ein; die Verschriftung ist eher eine Gedächtnisstütze. Viele Rabbiner können auch heute noch den Tanach auswendig. Doch erlauben die althebräischen Texte durch die Uneindeutigkeit der Schrift und die vielschichtige Bedeutung der Wörter unterschiedliche Fassungen und Interpretationen und sind somit Anlaß zu unendlichem Disput unter den Schriftgelehrten und im Talmud-Studium. Daher auch rührt die besondere Fähigkeit und Neigung zur intellektuellen Auseinandersetzung.

Bibelhebräisch und lebende Sprachen

Das Hebräische war spätestens seit dem 7. Jhd. eine tote Sprache, nur noch kultisch-religiös verwendet, ähnlich dem Kirchenlatein keine lebendige Sprache. Schon zuvor, in der Periode des zweiten Tempels, war Hebräisch eher die Tempelsprache, dagegen war die Sprache des Volkes das Aramäische, durchsetzt von Sprachelementen der diversen Besatzer und Nachbarn, also Babylonier, Perser, Philister, Griechen und Assyrer. Auch Jesus sprach und predigte außerhalb des Tempels nicht in Hebräisch, sondern in Aramäisch.

Mit der Islamisierung Palästinas wurde Arabisch die vorherrschende Sprache ‚Heiligen Land‘. Als lebende Sprache war Hebräisch in jedweder Form damit erloschen.

Die lebendigen Muttersprachen der Juden in Afrika und Europa waren über tausend Jahre Ladino (Judenspanisch) und Jiddisch (Judendeutsch, eine deutsch-hebräische Mischung – bis heute die Muttersprache der ultraorthodoxen Gemeinden), die wichtigen Verkehrssprachen waren Spanisch, Deutsch, Englisch, Russisch, Arabisch.

Erst die zionistische Bewegung hat Hebräisch als Alltagssprache und Amtssprache „Ivrit“ des Staates Israel wiederbelebt und neu geformt, um ein gemeinsames Element zu stiften. Dieses Ivrit ist mit Alt-Hebräisch zwar verwandt, aber nicht identisch, sowenig wie Italienisch mit Latein, oder modernes Deutsch mit Mittelhochdeutsch. Nur wenige Kenner und Altgermanisten sind heute noch in der Lage, frühmittelalterliche deutsche Texte zu verstehen. Das verleiht den Schriftgelehrten (Pharisäer/Rabbiner) als Spezialisten für das Althebräische eine umso größere Machtposition innerhalb des Judentums.

Der israelische Philosoph Ben-Aharon beschreibt diesen Abstand zwischen Ivrit und Althebräisch mit seinen Worten (er schrieb in Ivrit, ich übersetze aus dem Englischen [BEN]):

Dennoch muß ich mich sehr bemühen, in unseren gewöhnlichen hebräischen Worten, in der hebräischen Sprache, die mir zur Verfügung steht, auch nur das schwächste Echo jener Sprache auszudrücken, die als lebendiges Wesen in den Herzen unserer großen Vorfahren lebte und wogte. […] Ich bin mir der Dürftigkeit meiner Sprache sehr bewußt, und daß ich als moderner Mensch in der Tat nicht über jene hebräische Sprache verfüge, die als Stütze für die Schaffung von Konzepten, Bildern und Ideen dienen könnte, die in ihrer Form und Gestaltung dem Thema angemessen wären, das sie enthalten sollen. […] Ich spüre, wie meine Sprache, als Teil der Erosion und Säkularisierung der hebräischen Sprache, prosaisch, grau, materialistisch und oberflächlich, rationalistisch und stumpf geworden ist! Insgesamt ist es für einen Menschen unserer Zeit schwer zu begreifen, wie weit wir in diese Richtung abgeglitten sind.

Doch gibt es auch Juden, die gar kein Hebräisch sprechen oder verwenden.

Und es gibt die hebräische Glaubensgemeinschaft der Samaritaner (mittlerweile fast ausgestorben), die zwar Hebräisch sprechen, sich jedoch nicht als Juden bezeichnen; sich auf Moses beziehen, jedoch auf Manuskripte, welche nicht Teil des Talmud geworden sind; ähnlich wie bei den Christen die Peshitta, viele apokryphe Evangelien oder das Buch Mormon nicht Teil des kanonischen Neuen Testamentes wurden, und sich um diese Schriften eigenständige Gemeinschaften außerhalb der großen westlichen Amtskirchen bildeten.


[1] Spätere Niederschriften des Talmud enthalten als Lesehilfe Gruppierungen und Sprechanweisungen.