Wer oder was ist jüdisch? Betrachtungen jüdischer Identität

Johannes Freiland, 21.10.2024

5.  Religion, Mosaismus und Talmud

Geht man die Definition religiös an, könnte man sagen: Jude ist ein bekennender Anhänger der israelitischen Religion, nach ihrem Stifter Mose auch Mosaismus genannt, nach der Gottesbezeichnung der JHWH-Kultus. Doch gibt es nicht die jüdische Religion. Das religiöse Judentum zerfällt in unzählige Strömungen mit teils gegensätzlichen Ansichten, denn es ging historisch durch viele Entwicklungsstufen und Abspaltungen. Und es gibt unter den ‚Juden‘ ebensoviele Fundamentalisten und Reformer, Esoteriker und Atheisten, Agnostiker und Andersgläubige wie unter den ‚Christen‘.

Die Anfänge

Was immer man über die Anfänge dieser Religion sagen kann, ist keine objektive historische Wahrheit, sondern ein Herumtasten in Mythen und Legenden. Aber uns geht es ja darum, die Judenheit zu verstehen, wie sie über sich selbst und ihr Verhältnis zur Welt denkt. Und das ist nicht möglich ohne ein Verständnis der legendären Anfänge. Die folgenden Betrachtungen dazu stützen sich auf die Bibel und auf die Angaben von Édouard Schuré [ESC] und Yeshayahu Ben-Aharon [BEN].

Zu Zeiten der antiken Hebräer war die einfache Definition von Judentum als Religion noch treffend und hinreichend, sie bezog sich auf die Annahme der 613 mosaischen Gebote (Mizwot) und auf das Bekenntnis zu dem einen ‚Gott‘, der sich Mose (Mosche) gegenüber bezeichnete als JHWH, „Eheje Asher Eheje“, das heißt Ich bin der Ich bin, oder Ich werde sein, was Ich sein werde (2. Mose 3:14). Mose hat diese Religion begründet, und zwar fast im Alleingang.

Mose war von Geburt ein Ägypter namens Hosarsiph, hoher Priester des Osiris-Kultus, Neffe des Pharao Ramses II und selbst zweiter Anwärter auf den Thron [ESC]. Statt diesen für ihn vorgesehenen Platz einzunehmen, war er gezwungen, von Hofe zu fliehen, weil er im Affekt der Empörung einen ägyptischen Aufseher ermordet hatte, der einen hebräischen Sklaven verprügelte. Hosarsiph ging ins Exil in die Wüste Sinai zum Berg Horeb, damals wie heute eine der unwirtlichsten Gegenden, die man sich vorstellen kann. Dort traf er den Einsiedler-Priester Jethro und nahm eine seiner Töchter zur Frau (2. Mose 3:1). Bei Jethro unterzog er sich einem strengen Bußritus für seine Mordtat, einer gelenkten Jenseitsreise und Nahtod-Erfahrung, und nannte sich danach Mose, das bedeutet „der Gerettete“.

Nach dieser Einweihung entwickelte er die Vision einer neuen Religionsform. Er wollte den vorherrschenden Polytheismus seiner Zeit, der verknüpft war mit Menschenopfern und mit ständigen Blutfehden zwischen den Stämmen mit ihren jeweiligen Stammesgottheiten, ersetzen durch einen strengen Monotheismus, in dem es nur einen Gott geben durfte, dem sich alle gleichermaßen zu unterwerfen hätten. Es gab damals bereits in vielen Ländern einen gemäßigten Monotheismus, mit einem höchsten Schöpfergott sowie einer Hierarchie von Göttern/Geistwesen, oft dargestellt in Götzen, die jeweils in Teilbereichen oder für bestimmte Aufgaben zuständig waren. Diesem Glauben hingen auch die hebräischen Nomadenstämme der Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob an[1]. Bei diesen Stämmen verband sich der Glauben an einen höchsten Gott (Elohim) unter den gebildeten Patriarchen-Familien, welche auch die geistigen Oberhäupter des Stammes waren, mit Naturreligion und Götzendienst im gemeinen Volk und in alltäglichen Belangen, insbesondere was die ‚weiblichen‘ Bereiche betraf: die Fruchtbarkeit als Fülle der Natur und als Fortpflanzung.

Mose entschied sich zu einem gewagten Experiment. Er wollte ein Volk schaffen für die von ihm erdachte streng monotheistische Elohim-Religion. Dazu wollte er die voneinander relativ unabhängigen hebräischen Nomadenstämme mit eisernem Willen und der Überzeugungskraft des geschulten Hohepriesters zu einem einzigen Volk vereinigen, dieses neu geformte Volk auf einen einzigen Gott einschwören und jede Vielgötterei unter ihnen gewaltsam ausmerzen, nicht zuletzt durch Unterordnung des Weiblichen unter die Herrschaft des männlichen Prinzips und durch Degradierung der Natur zu etwas Niederem und Feindlichem [ESC].

Tatsächlich fand sich auf Moses intensive Versenkung und Gebete hin ein Geistwesen bereit, den Platz und die Rolle einzunehmen, die Mose vorgesehen hatte. Es kam zu der erstmaligen persönlichen Offenbarung dieses Wesens Mose gegenüber als JHWH (2. Mose 3:14) im brennenden Dornbusch, wobei JHWH von sich behauptete, derselbe Gott zu sein, den bereits einige hebräische Patriarchen als Elohim angebetet hatten (1. Mose 15), und sich bereit erklärte, der exklusive Volksgott der hebräischen Stämme zu werden, wenn diese sich bereit erklärten, keinerlei Götter oder Götzen neben ihm zu haben und seine Gesetzen bedingungslos aufs Genaueste zu befolgen. Moses Idee wurde somit nun von der geistigen Welt (von ‚Gott‘) aufgenommen, bekräftigt und konkretisiert. Die neue Religion sollte sich verbinden mit der attraktiven zweifachen Verheißung von Freiheit aus der ägyptischen Sklaverei und einem fruchtbaren fernen Land, „in dem Milch und Honig fließen“ (2. Mose 3:8), in dem man sich nach einer großen Wanderung niederlassen würde und dazu alle anderen Völker gewaltsam verdrängen würde, wobei JHWH als Sabaoth (Heerscharen), also als oberster Kriegsherr und höchster Kämpfer auftreten würde. Dieselben Bilder werden heute von Zionisten beschworen. Mose erhielt den Auftrag, die Stämme aus der Sklaverei unter dem Pharao fortzuführen, und zwar zunächst an denselben Ort, den Berg Horeb in der Wüste Sinai.

Der Pharao wurde der Legende nach gefügig gemacht durch von JHWH verursachte Naturkatastrophen (Wirbelsturm, Frösche, Heuschrecken, Finsternis) und Massenmord an allen Erstgeborenen – der erste Massenmord von vielen.[2]

Weiterhin befahl JHWH seinen Anhängern, die Ägypter auszuplündern und ihr Gold und Silber mitzunehmen (2. Mose 3:21).

Nachdem Mose wie befohlen die Stämme aus dem Kernland Ägyptens herausgeführt und an den Berg Sinai/Horeb herangeführt hatte, empfing er von JHWH auf dem Berg die 613 Gesetze (2. Mose 20 ff.), die er als ägyptische Hieroglyphen in Steintafeln schlug [ESC]. Während dieses Offenbarungsprozesses feierten Teile der Stämme unten im Lager einen Fruchtbarkeitsritus, wobei sie um ein goldenes Kalb tanzten, das Moses Bruder Aaron gemacht hatte. Als er vom Berg zurückkehrte und davon erfuhr, zerschlug Mose wütend seine Steintafeln und ließ durch die Leviten alle abschlachten, die am Fruchtbarkeitsritus teilgenommen hatten, der Legende nach dreitausend Menschen. (2. Mose 32:17). Das Morden setze sich fort mit dem gottbefohlenen Völkermord an allen Götzendienern, die den Hebräern unterwegs begegnen sollten, wobei ausdrücklich auch die heiligen Haine ausgerottet werden sollten, die Zentren der Naturreligion (2. Mose 34:13). Diese Tradition von Mord und Zerstörung an den Heiden und allem, was ihnen heilig war, wurde später von der römischen Kirche in Europa übernommen. Auch die heutigen israelischen Zionisten sehen gewissermaßen einen göttlichen Auftrag darin, die Felder und Olivenhaine der Palästinenser zu verwüsten.

Unter Mose wurde also aus dem fernen Elohim ein konkretes Wesen mit einer Stimme und konkreten Absichten und Gesetzen; da wurde Gott ein Einer, ein Individuum, ein Gegenüber (JHWH, Ich bin der ich bin), ein Schöpfer, der sich in allen Menschen wiederspiegelte, die er nach seinem Bilde geschaffen hatte, wodurch sich nun auch die Menschen mehr als ‚Ich‘ zu begreifen begannen. Zuvor waren die Götter fremdartig und viele gewesen, die Menschen erlebten sich mehr als ‚Wir‘, als Teil eines Stammeswesens und einer Ahnenkette, als Teil der Natur. Diese Individuation, diese Entwicklung des Ich-Bewußtseins auf breiter Basis und die Emanzipation von der mütterlichen Natur ist der essentielle Beitrag der Hebräer zur spirituellen Biographie der Menschheit, wie Ben-Aharon ausführt [BEN]. Das mag auch sinnvoll und als Entwicklungsphase notwendig bis unvermeidbar gewesen sein. So betrachtet hätte es zumindest einen Sinn, wenn auch nur als Durchgangsstadium, da strenger Monotheismus wirklichkeitsfeindlich ist.

Nur hat die Religion Moses einige Konstruktionsmängel, die bis heute fortwirken.

  • Die strikte Trennung in die gläubigen Männer des „Auserwählten Volkes“ einerseits und alle „Sonstigen“ andererseits, wobei die Sonstigen Gottes Mißachtung erfahren und kaum Rechte haben, sondern lediglich als Diener/Sklaven der Auserwählten vorgesehen sind.
  • Die Befürwortung von tödlicher Gewalt sowohl im Innenverhältnis gegenüber Gesetzesbrechern und Ungläubigen, wie auch im Außenverhältnis gegen jeden, der sich den Juden in den Weg stellt.
  • Die Verachtung von Natur und Weiblichkeit in einem strikt patriarchalischen System, worin Frauen als Leibeigene galten und im künftigen Volk Israel bis hin zum heutigen orthodoxen Judentum stets nur Menschen zweiter Klasse blieben.
  • Die Vielzahl rigider Gesetze, deren Befolgung mit der Zeit zum Selbstzweck wurde, und deren Kompliziertheit und Durchgriff auf die einfachsten alltäglichen Handlungen eine Anpassung an die Weiterentwicklung der Menschheit verhindern.
  • Das sich aus der Kompliziertheit und unklaren Anwendbarkeit der Gesetze entwickelnde Pharisäertum – heute das Rabbinat – worin eine Kaste religiöser Schriftgelehrter das letzte Wort in allen Angelegenheiten von Ethik und Politik hat und den Gläubigen die Selbstbestimmung genommen und die eigene Urteilsfähigkeit abgesprochen wird.

Pharisäer vs. Jesus Christus

Die Mission des Jesus von Nazareth läßt sich auch verstehen als Versuch, diese Konstruktionsmängel zu beheben. Jesus betrachtete und behandelte alle Menschen – ausdrücklich auch Frauen, Nichtjuden, Vertreter verächtlicher Berufe, Kleinkriminelle – als gleichwertig und vollwertig. Er lehnte die brachiale Bestrafung von Gesetzesübertretungen ab und lehrte Mitgefühl. Er wandte sich gegen die überbordende Vielzahl von Gesetzen und deren rigide Anwendung als Selbstzweck, stattdessen verwies er auf einfache und allgemeingültige moralische Grundprinzipien.

Die spirituelle Frucht der Individualisierung und des Monotheismus wurde später ein gemeinsamer Besitz von Judentum, Christentum und Islam, reicht also heute zur Definition von Judentum als Religion nicht mehr hin. Auch die fünf Bücher Mose (die Thora) und das Alte Testament (der Tanach[3]) sind ebenso ein Teil des geistigen Bestands von Christen und Muslimen. Dies gilt um so mehr, seit sich in der kirchlichen Theologie allmählich die grundfalsche Ansicht durchsetzte, der JHWH-Volksgott der Israeliten sei identisch mit dem Vatergott des Jesus von Nazareth, und Jesus sei bloß ein Rabbi; das Christentum könne somit als runderneuerte Fortführung des Judentums verstanden werden und die Juden als ältere Brüder im Geiste. Welch ein Irrtum! Das Verhältnis des Jesus zum Judentum seiner Zeit war ja, gelinde gesagt, problematisch. Es gab niemanden, der das damalige Judentum und seine Führer schärfer verurteilt hätte als er, so in Matthäus 23. Andererseits sagte Jesus von sich (Matthäus 5,17) „ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“. Dann muß man fragen, auf welche Periode oder Entwicklungslinie bezieht sich diese ‚Erfüllung‘, und worauf bezieht sich seine harsche Kritik? Und was ist die Konsequenz der Erfüllung durch den Christus – was fürchteten die Pharisäer so sehr, daß sie ihn morden ließen, und andere Propheten vor ihm morden ließen, um ihre Macht zu wahren? Warum wird Jesus von den orthodoxen Rabbinern noch heute als der schlimmste aller Hochverräter angesehen?

Die Religion der Israeliten gilt als „Buchreligion“ – wobei das allerdings für die frühe Periode nicht stimmt. Tatsächlich war das, was wir gewohnt sind als ‚heilige Schrift‘ zu bezeichnen, eben ursprünglich keine Schrift, sondern eine ausschließlich mündliche Überlieferung, die erst später in Hebräisch aufgeschrieben wurde, nämlich nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar und der Zerstörung des ersten Tempels 597 v. Chr. wobei „die oberen Zehntausend nach Babylonien deportiert“ wurden, also nur die Oberschicht der Hebräer. In dieser Periode des „Babylonischen Exils“ – wobei die Lebensumstände komfortabel blieben und die Hebräer ‚nur‘ den Verlustes der zentralen Kultstätte zu beklagen hatten – begann die Verschriftung und Kodifizierung der Thora und es bildete sich allmählich die Gruppe der ‚Schriftgelehrten‘ (Rabbiner) heraus. Die mündliche Religion wurde zur Schriftreligion. Der hebräische Glauben änderte damit allmählich seinen Charakter, weg vom lebendigen Kultus in der Präsenz Gottes im Tempel, hin zu der formalisierten Gesetz-und-Gehorsam Religion, als die wir das Judentum seither kennen.

Wie kam es dazu? Üblich war es damals, daß der Volksgott sein Volk zu schützen hatte, und ein Volksgott, der dazu offensichtlich nicht fähig war, eben aufgegeben wurde. Die Besiegten übernahmen die Religion der Sieger. Aber die hebräische Priesterkaste im Exil bediente sich eines schlauen Tricks: sie erklärten das Exil und die Zerstörung Jerusalems als Strafe des JHWH für Ungehorsam gegen das Gesetz, denn laut Thora hatte sich JHWH ja auch früher schon als unbarmherziger Strafer und Schlächter seiner eigenen ungehorsamen Anhänger gezeigt! Der Zorn Gottes über die Sünde wurde zur theologischen Erklärung des Exils, der absolute Gehorsam wurde zur Voraussetzung der Rückkehr und Neuerrichtung des Tempels. Nach der Wiedererrichtung des Tempels konnten sich die Schriftgelehrten, nun als Pharisäer bekannt (hebr. פְּרוּשִׁים peruschim Abgesonderte), weitgehend als Kaste der alleinigen Kenner und Wächter der Schrift und der Gesetze etablieren.

„Auf den Stuhl Moses haben sich die Schriftgelehrten und die Pharisäer gesetzt“.
Matthäus 23, 2

Da sie die Auslegung der Gesetze für sich beanspruchten und stets mit der Strafe Gottes drohen konnten, hatten sie fortan absolute Kontrolle und Macht über das Leben der Gläubigen. Es sind diese Pharisäer, gegen die Jesus so wortgewaltig wetterte.

Das grundsätzliche religiöse Verhältnis der orthodoxen Juden zu ihrem JHWH-Gott ist das eines Sklaven zu seinem Herrn: es gibt unzählige Gesetze und minutiöse Regelungen für alle Belange des Lebens, Gehorsam wird materiell belohnt, bei Ungehorsam oder Nichtbeachtung drohen drakonische Strafen an Leib und Leben. JHWH präsentiert sich als eifersüchtiger Gott, der Anbetung mit Gewalt einfordert. Hier ist also keine Freiheit, keine Selbständigkeit, kein freier Wille, sondern diese Religion läßt ein Ich-Bewußtsein sich entfalten durch die Reibung des Menschen am Gesetz, an Vorschriften.

Dagegen ist das von Christus als Prototyp vorgelebte Verhältnis der Christen zu ihrem Gott das eines erwachsenen Sohnes, einer mündigen Tochter zum liebenden Vater-Mutter, ein Verhältnis in Freiheit und potentiell auf Augenhöhe. Christus führt die Menschheit auf eine gänzlich neue Stufe der Bewußtseinsevolution, in die Entfaltung eines freien Willens und eines freien, eigenständigen Denkens – denn so sind wir Menschen vom Vatergott, der weit über JHWH steht, beabsichtigt. Der essentielle Unterschied könnte größer nicht sein. In diese Freiheit und Selbstverantwortung, in dieses neue Verhältnis zu Gott hat uns Christus geführt, indem er das Gesetz Moses erfüllt und somit erledigt hat.

Aber da nur ein kleiner Teil der ‚Christenheit‘ den Christus begriffen und seine Tat ergriffen hat und somit überhaupt die spirituelle Entwicklungsstufe des Judentums hinter sich ließ, ist der tatwirkliche Unterschied heute nicht so groß, wie er sein sollte. Seit das Christentum zur Staatreligion des römischen Imperiums wurde, haben die Amtskirchen das Ur-Christentum in vieler Hinsicht entkernt und pervertiert. Die Amtskirchen – gleich ob katholisch oder orthodox oder evangelisch – praktizieren eher eine modernisierte Fortsetzung des Mosaismus, bloß vereinfacht, da man von den 613 Geboten nur noch die ersten zehn als verbindlich ansieht. Das wahre Christentum als radikal neue Spiritualität auf völlig anderer Grundlage – im Kern das Mysterium von Golgatha, die Menschwerdung Gottes und die Sohnwerdung des Menschen – wurde von den großen Kirchen aufgegeben. Seit dem 20. Jhd. bezeichnen die Amtskirchen sogar Mosaismus, Islam und Christentum als die drei „Abrahamitischen Religionen“ und stellen sie damit auf die gleiche Stufe.

Der Talmud

Eine gemeinsame Klammer für das Judentum ist schon eher der Talmud als eine spezifisch israelitische Schrift (darum spricht Benjamin H. Freedman auch konsequent von den „Talmudisten“ statt von Juden). Der Talmud hat für die neuere Judenheit prägende Bedeutung, ebenso wie das Neue Testament für die Christenheit oder der Koran für den Islam.

Der (babylonische) Talmud ist weniger eine religiöse Schrift als eine Sammlung von Lehrmeinungen und Anekdoten über Philosophie, Mythen, Geschichten, Historie, Lebensregeln. Er entstand erst nach der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels, also nach dem Niedergang der israelitischen Kultur von Judäa-Palästina, zwischen dem 2. und 6. Jahrhundert n.Chr. in Babylonien, wo eine hebräische Elite unter toleranter persischer Herrschaft sich frei entfalten konnte. Der Talmud besteht aus zwei Hauptteilen:

  1. die Mischna als Niederschrift und Kommentierung des bis dahin nur mündlich überlieferten bzw. verlorengegangenen Textes der Thora, den Moses am Berg Sinai mündlich empfing; dieser Teil datiert aus dem 2. Jhd.
  2. die viel umfangreichere Gemara – der eigentliche Talmud – als Sammlung von Auslegungen und Analysen, abgeschlossen im 6. Jhd. Als dritte Schicht kommen später die Kommentare mittelalterlicher Gelehrter hinzu.

Im Folgenden ist mit Talmud immer die Gemara gemeint.

Der Talmud ist zum größten Teil die Aufzeichnung von Streitgesprächen unter bedeutenden Rabbinern mit durchaus unterschiedlichen Standpunkten. Talmud-Schüler (traditionell übrigens ausschließlich Männer) werden ausdrücklich ermuntert, die Texte kritisch zu hinterfragen und alternative Verständnismöglichkeiten zu diskutieren.

In Analogie zur Rechtskunde könnte man sagen:

  • Die Thora entspricht dem Grundgesetz. JHWH hat diese Gesetze angeblich direkt Moses offenbart, der sie den Leviten kündete, die sie dann dem Volk predigten. Dies entspricht im Islam dem Koran, der ebenfalls als direkte Offenbarung gilt.
  • Das übrige Alte Testament (Nevi’im und Ketuvim), entspricht dem Bürgerlichen Gesetzbuch BGB. Hier wird erzählt, wie die antiken Israeliten mit der Thora und dem Bund umgingen, was sie damit erlebten, wie JHWH sie für Wohlverhalten belohnte und für Verfehlungen strafte. Vorbildliches und gottwohlgefälliges Verhalten der Patriarchen wurde dann zur Richtschnur und zum Gesetz für alle. Ähnlich im Islam, wo das Verhalten des Propheten Mohammed, aufgezeichnet in den Hadithen, zur Richtschnur und religiösen Pflicht aller Anhänger wurde.
  • Der Talmud (Gemara) entspricht den Verwaltungsverordnungen und Durchführungsvorschriften. Hier haben sich angesehene Rabbis zu so gut wie jedem Alltagsproblem der Lebensführung geäußert und versucht, die Gesetze des Tanach auf restlos alles irgendwie anzuwenden. Ihre Ansichten sind oft widersprüchlich, haben nicht den gleichen Gesetzescharakter, sind also eher Empfehlungen als verbindlich.

Ein Beispiel:

  • Die Thora gebietet „Morde nicht“.
  • Das Alte Testament jedoch stellt klar, daß dieses Gebot nur für Juden untereinander gilt. Die Ermordung von Nichtjuden, auch Massenmord an Frauen und Kindern ist religiös betrachtet kein Mord (weil ja kein ‚Mensch‘ getötet wurde, sondern bloß ein niederes Wesen) und somit kein Problem und keine Sünde. Mord an Nichtjuden wurde biblisch vielfach von JHWH gefordert und durchgeführt, und wird heute wieder von Rabbinern gegenüber den Palästinensern gefordert und abgesegnet.
  • Zudem gilt als Tötung nur, wenn ein Jude eigenhändig tötet. Er darf aber die Tötung durch Dritte fördern, fordern, veranlassen und beauftragen. Selbst einen Juden töten zu lassen ist also zulässig, solange es ein Nichtjude durchführt. Prominentester Fall war die Kreuzigung Jesu durch die Römer auf Verlangen der Pharisäer.

Die Debatten im Talmud sind zudem geprägt von der frischen Erfahrung eines eingeschränkten Lebens unter römischer Besatzung und Zwangsverwaltung, womit vieles aus der zuvor gelebten religiösen Praxis nur noch eingeschränkt oder heimlich möglich war, und man stets abwägen mußte, ob man sich der realpolitischen Macht der Römer als einer rechtmäßigen Staatsmacht zu unterwerfen hatte, oder ob man sie als unrechtmäßige Besatzungsmacht hintergehen, betrügen, täuschen und ihre Vorschriften biegen und ignorieren durfte. Die Erfüllung der mosaischen Gesetze ist unter Fremdherrschaft und ohne den Tempel von Jerusalem gar nicht machbar!

Den letzten Punkt möchte ich nochmals betonen, weil er so wichtig ist zum Verständnis sowohl des Talmuds als auch der jüdischen Mentalität, wie sie uns durch zwei Jahrtausende entgegentrat. Seit der Auslöschung ihrer ursprünglichen Volkskultur in Judäa-Palästina lebten die Israeliten fast immer und überall als geduldete kleine Minderheit in einer Wirtsnation, und diese Wirtsnation hatte ein Rechtssystem und ein Wirtschaftssystem, in das sich die Juden realpolitisch einordnen mußten, obwohl es dem rabbinischen Rechtsverständnis widersprach. Man konnte nicht leben, wie es die Leviten gefordert, wie es die Patriarchen vorgelebt hatten. Man mußte Kompromisse schließen, abwägen, und gegebenenfalls geschickt täuschen und umgehen (das jiddische Wort „mauscheln“), ohne vor dem eigenen Gewissen und vor JHWH zuviel moralische Schuld auf sich zu laden. Dieses Spannungsverhältnis fand sich seit der römischen Besatzung überall, wo Israeliten lebten, daher sind die im Talmud gezogenen Schlüsse übertragbar, und diese Diskussion unter Rabbinern wurde kontinuierlich fortgesetzt, um unter veränderten Verhältnissen wieder neue Maßgaben zu finden.[4] Erst im Staate Israel nach 1948 hat das rabbinische Rechtsverständnis wieder uneingeschränkte Gültigkeit, mit grausigen Folgen für die dortigen Nichtjuden, die Palästinenser.

Die Talmud-Schulung in der unterschiedlichsten Auslegung von Schriften und Vorschriften auf mehreren Ebenen, die stete Diskussion über die Bedeutung und Gültigkeit von Gesetzen und Regeln, deren Ausnahmen und Schlupflöcher – anwendbar auch auf Vertrags- und Gesetzestexte – förderte von jeher die intellektuelle und rhetorische Brillanz der Talmudisten sowie ihren Hang zu und besondere Eignung für Justiz, Kommerz und Publizistik.

Der Schweizer Pädagoge Heinrich Pestalozzi (1746-1827) beschrieb es so: [PES]

„Selber die ungöttliche Kunst und das alle reinen Fundamente der Wahrheit, Weisheit und Frömmigkeit mißkennende Spielwerk des Talmuds ist mitten in seinem Unsinn ein äußerst merkwürdiges Denkmal der hohen gesetzgeberischen Kunst, durch welche das jüdische Volk zu einer, wenn auch noch so einseitigen und irregelenkten Ausbildung seiner Geisteskräfte hingeführt worden ist, die auch jetzt noch, beim sittlichen und religiösen Verderben dieses Volkes, dem letzten Betteljuden in den Erwerbsmitteln von Eigentum ein Übergewicht gibt, zu welchem der arme und eigentumslose Mann, der nicht Jude ist, in keinem Reiche der Welt noch gelangt ist.“

Dazu eine Anekdote von Ari Shaffir, der als Jugendlicher in einem amerikanischen Jeschiwa, einem Talmud-Internat, auf das Dasein eines orthodoxen Rabbi vorbereitet wurde: [SHA]

Am Sabbat darf man kein Feuer und kein Licht machen, auch keinen Lichtschalter betätigen. Ich wollte aber lesen, und ich hatte eine Leselampe über meinem Bett. Also schalte ich schon am Freitagnachmittag das Licht ein, dann ist es kein Verstoß gegen das Verbot, denn ich handele ja nicht am Sabbat. Nun hatte ich aber die ganze Nacht grelles Licht über dem Bett, und ich konnte nicht einschlafen. Ich wollte die Lampe mit einer Tasse zudecken, aber die fiel immer runter. Es war frustrierend, ich wollte einfach nur noch schlafen, und irgendwann dachte ich „egal, ich schalte sie jetzt einfach ab“‘. Aber mein Zimmer war genau am Eingang der Schule, und jeder, der vorbeikäme, würde mein Licht ausgehen sehen. Wir sind alle super-orthodoxe Juden, das Licht hat nicht zu wechseln, basta, und Freitagnacht würde das bemerkt. Und ich so „Fuck, die kriegen mich, das gibt Ärger, wenn ich das mache“. Also hab ich es gelassen, kein Gesetz gebrochen.
Aber über diese Sache mußte ich mehrere Jahre nachdenken, daß ich mehr Sorge hatte, Ärger mit Menschen zu kriegen als mit Gott, wo es doch Gottes Gesetz ist und kein Menschengesetz. Die Sabbatgesetze sind von Gott, es sollte mir scheißegal sein, ob Menschen mich dabei sehen. Und so wurde mir klar, daß ich gar nicht wirklich an Gott glaubte, und ich brach das Studium ab.

Tatsächlich sind Juden ungeheuer kreativ im Finden und Erfinden von neuen Möglichkeiten, die 613 mosaischen Gesetze zu biegen, ohne sie direkt zu brechen, auch technische Lösungen für das Licht-Problem sind darunter: Zeitschaltuhren können verwendet werden, um Lichter und elektrische Geräte zu voreingestellten Zeiten automatisch ein- und auszuschalten. Spezielle „Sabbat-Lampen“ enthalten eine Abdeckung, die man zur Verdunklung über die Glühbirne schieben kann, ohne sie auszuschalten. Manche moderne Geräte verfügen über einen „Sabbat-Modus“, der es ermöglicht, sie ohne direkte Schalter­betätigung zu nutzen. Bei einem Kühlschrank im Sabbat-Modus bleibt beispielsweise das Licht aus, wenn man die Tür öffnet. Es gibt in Jerusalem das Zomet-Institut, bekannt als „die Firma, die Gott austrickst“, eine Art israelisches Pendant zur Stiftung Warentest, nur daß es neue Produkte nicht auf Verbraucher­freundlichkeit testet, sondern darauf, ob sie glaubens­kompatibel sind. Die Rabbis und Ingenieure von Zomet sind spezialisiert auf die Umgehung von Talmud-Verboten durch Tricks und Technik. [KEN] Noch ein Beispiel: Essen gilt nur dann als koscher, wenn es von Juden hergestellt wurde. Eine moderne Auslegung der alten Regeln besagt aber, daß es reicht, wenn ein Jude den Ofen anschaltet und den Prozeß kontrolliert. Zomet hat ein Fernsteuerungssystem erfunden, mit dem ein jüdischer Kontrolleur per SMS einen Keksofen in China einschalten kann. Videokameras in den Fabriken ermöglichen die Überwachung in Tel Aviv.

Wir lernen daraus etwas Wesentliches: Gemäß der talmudischen Religions- und Rechtssauffassung hängt die Beurteilung eines Menschen durch JHWH ausschließlich davon ab, ob die äußere Handlung des Menschen dem Buchstaben des Gesetzes formell entspricht, oder so gedeutet werden kann. Die gesamte Talmud-Theologie dreht sich deshalb um die geschickte Deutung der Gesetze und das Erfinden von Schlupflöchern, womit dem Wortlaut genüge getan wird, auch wenn Sinn und Absicht der Gesetze umgangen wird. Schaut man auf unser heutiges westliches Rechtssystem, dann erkennt man unschwer, daß es den Prinzipien der Talmud-Theologie folgt.

Doch gibt es auch jüdische Fraktionen, die nur den Tanach als Offenbarung Gottes gelten lassen und den Talmud als Menschenwerk ablehnen. Manche lassen nur die fünf Bücher Mose gelten, sind also Mosaisten im engeren Sinne. Wieder andere picken sich aus der Gemara heraus, was sie als Rechtfertigung für ihre politisch-wirtschaftlichen Bestrebungen benötigen, und ignorieren den Rest.

Im mittelalterlichen Languedoc (Südfrankreich) blühte die esoterische Strömung Kabbala (hebr.  קַבָּלָה Wortstamm קבל qbl bedeutet ‚Empfangen‘), die sich mit christlicher Gnostik (Katharertum) und Rosenkreuzertum sowie Hinduismus/Theosophie wechselseitig befruchtete. Hier geht es um direkte Verbindung zur geistigen Welt, Neues zu empfangen, im Gegensatz zum Talmud-Glauben, der sich auf die Weitergabe, Bewahrung, Deutung und Umdeutung des von Moses empfangenen Gesetzeswerks beschränkt. Hier entstand im 14. Jhd. die bedeutendste kabbalistische Schrift, der Sohar (hebr. זֹהַר Zohar, Glanz), eine esoterische Auslegung der Thora, worüber der eine der Autoren, Rabbi Simeon Bar Jochai, sagte „Weh mir, wenn ich enthülle, und weh mir, wenn ich nicht enthülle“, also weh mir, wenn ich dieses Wissen aufschreibe und öffentlich mache, weil es dann mißverstanden und mißbraucht werden kann; aber auch weh mir, wenn ich es nicht aufschreibe, weil es dann verlorengeht. [BEN]
Ein Zweig der Kabbala, die Zahlenmystik bzw. Wechselbeziehung von Buchstaben und Zahlen, ist in der westlichen Esoterik Allgemeingut, wenn auch nur als abgespeckte Vulgärform.

Die Kabbala war auch Zündfunke für die berühmte mystische Strömung des Chassidismus (hebr. חסידות chassidut Frömmigkeit), begründet vom litauischen Rabbi Israel ben Elieser (†1760), genannt Ba‘al Schem Tov. Das schöne Buch „Die Legende des Baalschem“ von Martin Buber über diesen osteuropäischen Heiligen [BUB2] war meine erste Berührung mit Judentum überhaupt. Der Chassidismus wiederum mündet in die heutige Ultra-Orthodoxie.

Viele Juden haben jedes Bekenntnis zu einer der jüdischen Religionsformen abgelegt, sind also in diesem Sinne ‚Ungläubige‘, sehen sich aber dennoch kulturell oder ethnisch als ‚jüdisch‘, was wieder die Frage aufwirft: wie definiert man eine jüdische Identität ohne Religion?


[1]     Laut Schuré [ESC] waren diese drei Patriarchen nicht verwandt, sie stammten aus unterschiedlichen Gebieten. Die Verwandtschaft wurde später dazu erfunden, aus dem Wunsch nach ‚Blutlinien‘ heraus. Die drei Stämme der Abrahamiten, der Jakobiten und der Beni-Israel wanderten aus, um die grausame Tyrannei der Babylonier hinter sich zu lassen.

[2]     Auch heute sagen übrigens manche Rabbis, daß Naturkatastrophen in den USA in Wirklichkeit von JHWH bewirkte Strafen für politische Entscheidungen der US-Regierung gegen die Interessen des Staates Israel seien, die in zeitlichem Zusammenhang damit stehen. Ob nicht vielmehr das israelische Militär und der Geheimdienst Mossad durch Geoengineering (gezielte Wettermanipulation) gezielt nachhelfen, sei mal dahingestellt.

[3]     Tanach bzw. Tanakh (TNK) ist ein Akronym, das sich aus den Anfangsbuchstaben der drei Hauptteile zusammensetzt: T: Thora (Weisung/Lehre: Die fünf Bücher Mose), N: Nevi’im (die Bücher der Propheten), K: Ketuvim (weitere Schriften wie Psalmen, Sprüche etc).

[4]     In einem ähnlichen Spannungsverhältnis leben auch alle Muslime in westlichen Ländern, denn ihre Religion verlangt eigentlich die Anwendung der Scharia, des islamischen Rechts. Aber das ist politisch nicht durchsetzbar, daher sehen wir eine muslimische Schattenjustiz.