Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität
Johannes Freiland, 02.10.2024
7. Sind Juden ein Volk?
Sind die Juden denn ein Volk? Schon lange nicht mehr – oder noch nie – oder noch nicht, je nach Blickpunkt. In der Periode des Altertums, in der die hebräische Bibel spielt, gab es zweifellos ein Volk der Hebräer, aber nicht etwa ein „jüdisches Volk“ – diesen Begriff gab es nicht – sondern das „Volk Israel“, bestehend aus zwölf Stämmen, von denen der Stamm Yehuda (Juda) nur einer war. Sie hatten eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Religion, gemeinsame Ahnen, eine gemeinsame Kultur und Gesetze, und waren gemeinsam seßhaft im Lande Kanaan, der Region zwischen dem Fluß Jordan im Osten und dem Mittelmeer im Westen, zwischen der Stadt Sidon im Norden (heute Libanon) und der Wüste Sinai im Süden. Alle Merkmale eines Volkes wären damit vorhanden.
Weiter heißt es in der Legende, seit der zweiten Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch römische Legionen (70 n. Chr.) seien die hebräischen Stämme, welche die mosaische Religion gepflegt hatten, gewaltsam zerstreut worden (altgr. διασπορά, Diaspora = Verstreuung). Viele wanderten aus in Länder mit Religionsfreiheit, andere wurden zu sogenannten Krypto-Juden, die ihre Religion nur noch im Verborgenen pflegten und sich oberflächlich dem Islam oder Christentum anschlossen, je nachdem, welche Religion jeweils an ihrem Orte die mächtigste oder vorgeschriebene war. Die jüdische Nationalgeschichtsschreibung möchte uns jedenfalls glauben machen, alle heutigen Juden seien Nachfahren der zerstreuten und deportierten Judäer.
Die wissenschaftliche Geschichtsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jhd. kam jedoch zu Ergebnissen, die den biblischen Stammesmythen widersprechen. Demnach gab es deutlich mehr Stämme, und sie bildeten kein einheitliches Siedlungsgebiet, sondern einen Flickenteppich mit den weiterhin zwischen ihnen lebenden Völkern aus der Zeit vor der sog. „Landnahme“ der einwandernden Israeliten. Die Forschung zerlegte den Mythos, man könne die Bibel als Geschichtsbuch lesen. Für den legendären Exodus aus Ägypten gibt es keine Belege, ebensowenig für die Königreiche des David und Salomo, ebensowenig für eine Massendeportation durch die Römer. Das veranlaßte den israelischen Historiker Schlomo Sand zu seinem provokanten Buchtitel „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ [SAN1]. Daraus zitiert: [SAN2]
Nach neueren archäologischen Erkenntnissen kann im 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gar kein großer Exodus stattgefunden haben. Auch konnte Moses die Hebräer nicht aus Ägypten heraus- und ins „gelobte Land“ führen – einfach weil dieses sich damals in den Händen der Ägypter befand. Darüber hinaus findet sich nirgends ein Hinweis auf einen Sklavenaufstand im Reich der Pharaonen noch auf eine rasche Eroberung des Landes Kanaan durch irgendwelche Eindringlinge.
Vom prachtvollen Königreich Davids und Salomos gibt es keine Überreste. Die Entdeckungen des vergangenen Jahrzehnts zeigen, daß damals zwei kleine Reiche existierten: das mächtigere Israel im Norden und der Zwergstaat Judäa im Süden. Dessen Bewohner, die Judäer, wurden jedoch nicht im sechsten vorchristlichen Jahrhundert vertrieben: Nur die geistigen und politischen Eliten mußten sich in Babylon niederlassen, wo sie die persischen Kulte kennenlernten – und aus dieser folgenreichen Begegnung entwickelte sich der jüdische Monotheismus.
Aber wie steht es mit der Vertreibung des Jahres 70 unserer Zeitrechnung; hat sie tatsächlich stattgefunden? Erstaunlicherweise hat sich die Forschung mit diesem wichtigen identitätsstiftenden Ereignis noch nie beschäftigt, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die Römer haben an der gesamten Ostküste des Mittelmeers nie ein Volk ins Exil geschickt. Mit Ausnahme der versklavten Gefangenen lebten die Judäer auch nach der Zerstörung des Zweiten Tempels auf ihrem Land.
Eine Minderheit unter den Judäern konvertierte im vierten Jahrhundert zum Christentum. Und nach der arabischen Eroberung im siebten Jahrhundert schloß sich die Mehrheit dem Islam an. Das war den meisten zionistischen Denkern durchaus bekannt: Noch 1929, im Jahr des großen Palästinenseraufstands, schreiben darüber Jitzchak Ben Zwi, der 1952 nach Ezer Weizmans Tod Israels zweiter Präsident wurde, und Staatsgründer David Ben Gurion. Beide erwähnen mehrfach, daß die in Palästina ansässigen Bauern die Nachfahren der Bewohner des antiken Judäa seien.
(Schlomo Sand)
Nun, egal ob man der traditionellen nationalen Geschichtsschreibung Israels oder der wissenschaftlichen Historie folgt: so oder so lebten spätestens nach der Islamisierung Palästinas dort keine Judäer mehr, die den JWHW-Kult pflegten. Sie waren entweder konvertiert oder abgewandert.
Damit beginnt das Dilemma der völkischen Definition. Denn die abwandernden Judäer, soweit sie ihre Religion beibehielten, verloren ihre geographische Heimat, sie verloren das Hebräische als gemeinsame Muttersprache, sie verloren ihre Staatlichkeit und gliederten sich in andere Nationen ein, sie verloren auch ihre Kultur, da sie ihre Gebräuche nicht mehr öffentlich pflegen konnten und sich dem Rechtssystem des jeweiligen Wirtslandes unterwerfen mußten. Ihre Religion zerfiel in diverse Sekten. Sie verloren damit alle Merkmale eines Volkes.
Dazu kommt, daß seit über tausend Jahren die allermeisten Juden von Konvertiten abstammen, nicht von Bewohnern des Landes Judäa-Palästina. Ihre Vorfahren hatten somit nicht dem Hebräisch-Judäischen Volk angehört. Dazu mehr im Kapitel „Rasse oder Ethnie“.
Das hatte auch Theodor Herzl, der Vordenker des Zionismus, erkannt und gewußt, und er verwandte viel Hirnschmalz darauf, dennoch ein gemeinsames völkisches Band zu konstruieren, weil er nur so sein Ziel eines Judenstaates rechtfertigen und seine Genossen und politischen Verbündeten motivieren konnte. Sein Trick bestand in einer Dekonstruktion und Umdeutung des Begriffes Volk. Ich zitiere aus Herzls Aufsatz Dr. Güdemanns National-Judentum von 1897 [HER2], einer polemischen Streitschrift gegen den anti-zionistischen Oberrabbiner von Wien, Dr. Moritz Güdemann, weil dort viele der gängigen Argumente vorkommen:
[Zitat Güdemann] „Untersuchen wir jedoch, wie bei ihnen (den Juden) dasjenige, was eine Vielheit von Menschen zu einem Volke macht, sagen wir die Volksseele oder der nationale Geist, sich äußert, inwiefern sie hierin anderen Völkern gleichen und hinwiederum sich von ihnen unterscheiden! Von der Seßhaftmachung in Palästina bis zur zweiten Zerstörung Jerusalems, also während des ganzen Bestandes des israelitisch-jüdischen Volkes treten in ihm alle jene Erscheinungen hervor, denen wir auch bei anderen Völkern begegnen und auf welchen das Volksbewußtsein beruht: Einheitlichkeit des Vaterlandes, der Sprache, Religion, Rechtspflege und Sitte.“
Beruht wirklich das Volksbewußtsein nur auf diesen Einheitlichkeiten, wie er meint? Es beruht nicht auf der Einheitlichkeit des Vaterlandes, das zeigen die in der Welt versprengten Teile anderer Völker und im größeren Maßstab die Kolonien. Denn alle Völker leben heute gewissermaßen in der Diaspora; nur unser privilegium odiosum ist es, daß wir überall Kolonisten ohne Mutterland sind. Wir haben Vaterländer, das sind die, wo wir Staatsbürger sind – soweit man es eben gestattet – aber wir haben kein Mutterland. Und dieses Mutterland sucht der Zionismus mit der Seele.
Aber weiter. Das Volksbewußtsein beruht auch nicht auf der Einheitlichkeit der Sprache, Beweis Österreich oder die Schweiz. Nicht auf der Einheitlichkeit der Religion, Beweis alle Kulturstaaten. Nicht auf der Einheitlichkeit der Rechtspflege, Beweis Deutschland vor der Einigung. Nicht auf der Einheitlichkeit der Sitte, Beweis jedes Land, in dem es Klassenunterschiede gibt. Das Volksbewußtsein beruht überhaupt nicht auf diesen Erscheinungen, sondern es bringt sie hervor, nachdem es schon sehr stark geworden ist. Worauf beruht also das Volksbewußtsein, das Herr Dr. Güdemann nicht erklären kann?
Es beruht auf der Erkenntnis einer Anzahl von Menschen, daß sie durch geschichtliche Umstände zusammengehören und in der Gegenwart aufeinander angewiesen sind, wenn sie nicht zugrunde gehen sollen. Wie die Nützlichkeit solchen Zusammenhaltens allmählich von höheren Ideen durchsetzt und von Gemeinem gereinigt wird, das wäre ein schöner Gegenstand für Untersuchungen, es würde uns aber jetzt zu weit führen. […] Übrigens gibt Herr Dr. Güdemann selbst zu, daß jedes Volk durch den Feind entsteht. Es gehört zu den Reizen seiner Darstellung, daß er sich häufig widerspricht. Meint er, daß wir nicht mehr ein Volk sein dürfen, obwohl oder weil wir geschichtlich eines waren? Wir könnten ihm sagen, daß wir selbst ohne jenes alte Band das unverjährbare Recht hätten, ein neues Band zu schaffen. Ich nehme sein Wort von Seite 13: „Die Kriegsfackel entflammte die nationale Begeisterung, an ihrem Feuer wurde das Band geschmiedet, welches die Massen einigte und zu einer Nation machte.“
Herzl sieht also – eine zionistische Kernthese – die Judenheit als Volk definiert im wesentlichen durch stete äußere Bedrohung, durch Feindschaft! Herzl selbst sagt ausdrücklich auch, diese Feindschaft sei meist von den Juden selbst durch ihr eigenes Verhalten hervorgerufen worden, sei somit keine religiöse Verfolgung, sondern beruhe auf gegenseitiger sozialer Ablehnung und Unvereinbarkeit [1].
Im Gründungsmythos des Staates Israel und in der Grundhaltung der meisten Israelis und Zionisten erkennt man darum auch wieder:
- Die Voraussetzung und Grundannahme der steten äußeren Feindschaft und Verfolgung – beginnend mit der Vertreibung aus Judäa und Jerusalem, später aus England, aus Spanien, aus dem zaristischen Rußland, zum Äußersten gesteigert im Alpdruck der Schoa (hebräisch שּׁוֹאָה für ,Katastrophe, großes Unheil‘, später auch Holocaust genannt, aus altgriechisch ὁλόκαυστος holókaustos, deutsch ‚vollständig verbrannt‘), deren Unantastbarkeit und lautstarke „Erinnerungskultur“ darum auch von so zentraler Wichtigkeit für Zusammenhalt und Identität der heutigen Judenheit ist.
- Das Bild von der Kriegsfackel, welche die Nation schmiedet und zusammenhält – die darum seit Beginn der jüdischen Dominanz im Palästina des 20. Jhd. nie erloschen ist und nie erlöschen darf.
[1] „Wir Juden haben uns, wenn auch nicht durch unsere Schuld, als Fremdkörper inmitten verschiedener Nationen erhalten. Wir haben im Ghetto eine Anzahl gesellschaftswidriger Eigenschaften angenommen. Unser Charakter ist durch den Druck verdorben, und das muß durch einen anderen Druck wiederhergestellt werden.“ (Theodor Herzls Tagebücher 1895–1904)