Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität

Johannes Freiland, 23.09.2024

4.  Absonderung oder Assimilation – Schtetl oder Haskala

Die Begriffsverschiebung Israelit → Jude ist zugleich eine Verschleierung: die Trennung zwischen Glaubensbekenntnis einerseits und Abstammung andererseits fiel weg. Und das hatte Wirkung auf das Ansehen der Israeliten im christlichen Europa.

Bis dahin hatte das christliche Abendland auf die Israeliten herabgeblickt, sie verachtet als „Mörder Christi“, als Relikte einer längst überlebten Religion, mit exotischer Optik und Kleidung (langer schwarzer Mantel, großer schwarzer Hut, Kippa, Schläfenlocken, Rauschebart), mit verschrobenen Gebräuchen und Gebärden, unzähligen unverständlichen Regeln, einer als unmoralisch und zwielichtig geltenden Lebensweise, einer fremdartigen Sprache.

Sie lebten darum abgesondert auf Gegenseitigkeit, d.h. sowohl die Obrigkeit wollte die Israeliten beschränkt wissen auf zugewiesene Orte und Berufe, als auch die Israeliten selbst blieben lieber unter sich, so daß sie ihre rituell vorgegebene Lebensweise ungestört pflegen konnten und sich weniger den Gojim anpassen mußten. Warum, das betrachten wir weiter unten beim Thema Talmud.

Im dünn besiedelten Osteuropa bildete ein erheblicher jüdischer Bevölkerungsanteil (4-17%, Durschnittlich 11%) vorwiegend kleine, in sich abgeschlossene Siedlungen mit rein jüdischer Kultur, genannt Schtetl (vom mittelhochdeutschen Stetel, also Städtchen), in größeren Städten bildeten sie abgeschlossenes Wohnviertel als Ghetto. Der prominente Zionist Max Nordau sagte 1897:

Das Ghetto war für den Juden der Vergangenheit kein Gefängnis, sondern eine Zuflucht. Im Ghetto hatte der Jude seine eigene Welt; es war der sichere Zufluchtsort, der für ihn den spirituellen und moralischen Wert eines elterlichen Zuhauses besaß.

Im dicht besiedelten Mittel- und Westeuropa dagegen gab es viel weniger Juden (< 1%) und eine gänzlich andere Situation. Hier entwickelte sich kaum die Schtetl Subkultur, sondern eher Judenviertel und Judengassen, weniger abgeschlossen, die Israeliten waren in der Öffentlichkeit präsenter, hatten damit mehr Anteil an der Gesellschaft und mehr Geschäftsmöglichkeiten mit Fürsten und hochstehenden Bürgern – somit auch mehr Reichtum als ihre meist armen osteuropäischen Glaubensgenossen – waren dafür auch mehr der Kritik ausgesetzt.

Dann kam Luthers bahnbrechende Bibelübersetzung, es kam der Protestantismus und mit ihm Gottesdienste in deutscher Sprache, es kam die evangelische Kirchenmusik mit ihrer großen Vorliebe für alttestamentarische Texte, und der Begriff „Jude“ bekam einen anderen Klang und eine andere Bedeutung. Hatte die katholische Kirche eher das mystische Empfinden und die Betrachtung des göttlichen Christus gepflegt, so legte die evangelische und angelsächsische Theologie mehr Gewicht auf den Menschen Jesus, und der war ja ein Judäer gewesen. Und nun wirkte die sprachliche Ungenauigkeit Judäer/Jude sich so aus, daß man den Menschen Jesus als Juden sah, und die ‚Juden‘, die unter uns lebten, wurden im Umkehrschluß zum dem Volk, welches Jesus hervorgebracht hatte. Damit galt jeder Anhänger des alttestamentarischen JHWH-Glaubens, jeder Talmudist, jeder Einwohner eines Schtetl oder Ghetto eben als ein ‚Jude‘ und somit als Bluts-Nachfahre und Angehöriger des von Gott auserwählten Volkes, des stolzen biblischen Volkes Israel, aus dem Jesus hervorgegangen war, aus dem uns „das Heil kam“, aus dem vermeintlich unsere Religion kommt.

In einer feudal geprägten Zeit, wo Abstammung und Blutlinie die gesellschaftliche Stellung und das Ansehen eines Menschen bestimmten, ergab diese falsche Verquickung {Israelit = Judäaer, Jesus = Jude} einen prägenden Unterschied in der Sichtweise der Christen auf die Anhänger des alten Glaubens, denn nun waren die europäischen Juden vermeintlich direkte Nachkommen des Volkes Jesu aus dem heiligen Land. Wie konnte man da noch länger auf sie herabblicken? Sie wurden gleichsam geadelt zu schutzwürdigen älteren Brüdern.

Auch für das Selbstbild und Selbstbewußtsein der „Juden“ war dieser Schritt wichtig, denn im Alten Testament und somit in der jüdischen Gedankenwelt waren und sind Abstammung, Blutlinie und Ahnenfolge ein Dreh- und Angelpunkt, wie wir unten noch sehen werden. Wer sich zu den Nachkommen der israelischen Stämme zählen durfte, war im Selbstgefühl gewissermaßen adelig. Ich greife vorweg: 90% aller Juden haben keine Abstammungslinie zum biblischen Land! Aber der Trick Israelit = Jude = Judäer verschleiert das. Man durfte sich nun zu den Nachkommen Abrahams zählen, auch wenn man faktisch Nachkomme von Konvertiten war.

Diese neue Betrachtung brachte es auch mit sich, daß man die Judenheit nun zusehends mehr als Ethnie ansah, weniger als Religion (siehe die Kapitel Volk und Rasse). Man war und blieb Jude schon durch familiäre Abstammung, selbst wenn man mit dem religiösen Gebäude „Volk Israel“ innerlich nichts zu schaffen hatte, wenn man die Gebräuche und Vorschriften nicht einhielt, ja, sogar wenn man zum Christentum konvertiert war!

Auch das gesellschaftliche Klima der Aufklärung trug dazu bei, daß es für die Juden allmählich möglich und wünschenswert wurde, ihre Isolation aufzugeben. Es entwickelte sich eine starke Bewegung der jüdischen Integration und Reformation, von Berlin und Königsberg ausgehend, die Haskala (hebräisch: Bildung, Philosophie, Aufklärung), unter dem Motto des Moses Mendelssohn „Sei ein Jude zuhause und ein Goj auf der Straße“. Die aufgeklärten jüdischen Gemeinden lockerten die Lebensregeln zugunsten besserer gesellschaftlicher Einbindung. Schließlich kam es auch zur politischen und rechtlichen Gleichstellung. Zuerst in Frankreich (1791), dann in Preußen (Emanzipationsedikt von 1812) und weiter in England (1846) erhielten Juden die vollen Bürgerrechte, Freizügigkeit und freie Berufswahl, somit ganz neue Entfaltungsmöglichkeiten, die ihnen zuvor verwehrt waren. Und das wurde weidlich genutzt (siehe Kapitel Streben nach Reichtum, Macht und Einfluß).

Aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten und Erfahrungen (siehe Kapitel Religion und Talmud) wurden Juden rasch – und weit überproportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung! – Teil des Mittelstands und Bildungsbürgertums und erlangten gesellschaftlich sehr einflußreiche Positionen als Bankiers, Juristen, Journalisten, Verleger, Künstler, Beamte. Sie waren in der Mitte der Gesellschaft angekommen und begannen nun, diese Gesellschaft zu prägen und nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen. Damit stießen sie auf Widerstand, denn Werte und Vorstellungen des Talmud sind mit Christentum und Deutschtum nicht kompatibel! Auch dazu unten mehr.

Manchen Ostjuden ging andererseits diese Integration zu weit, sie empfanden das als Identitätsverlust. Der Zionismus entstand Ende des 19. Jahrhunderts in den osteuropäischen Ländern als ethnozentrisch-identitäre Gegenbewegung zur Verhinderung eben dieser Assimilation, wie die Zionisten sie bezeichnen (von lat. simile, ähnlich; Assimilation heißt also Angleichung). Politisches Ideal des Zionismus ist „Der Judenstaat“ (Buchtitel von Theodor Herzl), in dem Juden dominant und möglichst unter sich sind, wo ihre Subkultur die Leitkultur ist – der schließlich 1948 in Palästina ausgerufene Staat Israel ist im Grunde ein „riesenhaftes Schtetl“ oder „glorifiziertes Ghetto“, wie der israelische Autor Gilad Atzmon es treffend sagte [ATZ].

Zu Beginn des 20. Jhd. bildeten sich unter den gesellschaftlich aktiven Juden zwei Fraktionen heraus. Die Assimilationisten strebten ‚nur‘ nach kultureller Anerkennung des Judentums als gleichberechtigter Religion neben dem Christentum. Sie verstanden sich als Religionsgemeinschaft und ansonsten als gut integrierte und loyale Mitglieder ihrer jeweiligen Wirtsnationen, wie es beispielsweise im 1893 gegründeten „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ zum Ausdruck kam. Ein britischer Jude war also zuerst Brite, und dann Angehöriger der jüdischen Religion. Die Zionisten dagegen verstanden sich als Ethnie ohne Staat, als vertriebenes Volk ohne Heimat, und strebten nach maximaler Macht, um die Sonderheit und Eigenständigkeit des Judentums als eigenes Volk in einem eigenen Staat politisch und militärisch durchzusetzen. Ein britischer Jude war also ein Jude, der in der Diaspora lebte, aber kein Brite. Zwei Zitate stellen das unmißverständlich klar:

„Es gibt keine englischen, französischen, deutschen oder amerikanische Juden, sondern nur Juden, welche in England, Frankreich, Deutschland oder Amerika leben.“
(Chaim Weizmann, 1897 auf dem 1. Weltkongreß der Zionistischen Weltorganisation in Basel)

„Die Juden weisen die Idee einer Fusion mit anderen Nationalisten energisch zurück, und halten sich an ihrer historischen Hoffnung auf ein Weltimperium fest.“
(Max Mandelstam, 1898 auf dem 2. Weltkongreß der Zionistischen Weltorganisation in Basel)

Zwischen den beiden Fraktionen der Assimilationisten und der Zionisten entspann sich in England, Frankreich und Deutschland ein teils erbitterter Machtkampf, und zunächst lag aller Vorteil bei den Assimilationisten, da kaum einer der gesellschaftlich etablierten Juden bereit war, sein komfortables Leben aufzugeben zugunsten des Hirngespinstes einer kleinen Gruppe von Extremisten, die in einem primitiven Land weit weg von der Zivilisation von vorn anfangen wollten.

Wie es den Zionisten in Großbritannien und USA dennoch gelang, ihre Ziele vollständig durchzusetzen und die Assimilationisten letztlich aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis zu löschen, so daß die Zionisten heute auf der großen Bühne als alleinige Sprecher des Weltjudentums gelten, habe ich ausführlicher nachgezeichnet anhand der Werke von James A. Malcolm [MAL] (von mir übersetzt und kommentiert hier), Jonathan Schneer [JSN] und Benjamin H. Freedman [FRE1] (ebenfalls von mir übersetzt und kommentiert hier). Die Position der Assimilationisten wurde deutlich ausgesprochen in einem offenen Brief anti-zionistischer britischer Judenverbände in The Times, nachzulesen hier. Siehe auch unten im Kapitel „Deutsche Juden zwischen den Kriegen“.

Viele ultra-orthodoxe Juden leben heute wieder freiwillig abgesondert in einer Parallelgesellschaft wie in einem Schtetl. Diese abgeschlossenen Nachbarschaften zeichnen sich durch Autarkie, eigene Bildungseinrichtungen und eine strikte Befolgung religiöser Gesetze aus, um die traditionelle Lebensweise zu bewahren. In den USA sind das die New Yorker Stadtviertel Brooklyn, Williamsburg, Borough Park, dann die Städte Monsey/NY, Kiryas Joel/NY, Lakewood/NJ; in Israel die Jerusalemer Stadtviertel Mea Shearim und Geula, die Stadt Bnei Brak bei Tel Aviv, die Stadt Beit Shemesh bei Jerusalem.