Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität
Johannes Freiland, 23.09.2024
3. Das Wort ‚Jude‘ und das Land ‚Judäa‘
Beginnen wir mit der Wortherkunft. Im Alten Testament findet sich kein solches Wort „Jude“ im heutigen Sinne, als Sammelbegriff oder Gattungsbegriff für ein Volk und/oder eine Religion. Nach Benjamin Freedman [FRE1] basiert der heute gebräuchliche Begriff „Jude“ –zumindest das englische Wort „Jew“ – auf einer Wortschöpfung des englischen Bibelübersetzers Wycliffe aus dem Jahre 1345.
Die hebräische Bibel kennt das Wort יְהוּדִי Yehudi, für einen Menschen, der aus der Region Judäa oder Juda stammt, dies wiederum abgeleitet von יְהוּדָה Yehudah, einem der zwölf Söhne Jacobs. Nach Yehuda benannte sich der Stamm Juda, einer der legendären zwölf Stämme des Volkes Israel, die nach Kanaan einwanderten und dort siedelten. Eine ungefähre Karte dieser zwölf Stämme mit ihren mutmaßlichen Siedlungsgebieten (Anhang IV) zeigt Juda im Süden, Bethlehem lag im Stammesgebiet von Juda. Jerusalem dagegen lag auf dem Gebiet des Stammes Benjamin, Nazareth weit nördlich auf dem Gebiet des Stammes Issachar. Da die Stämme und ihre Königreiche ihre Grenzen laufend verschoben, durch Bündnisse sich vereinten, bei Zwisten sich abspalteten, von außen erobert wurden oder selbst Eroberungen tätigten, ist die Historie dieser Region verwickelt und alle Angaben unsicher. Stets war der Tempel von Jerusalem das Zentrum des JHWH (Jahweh) Kultes, aber nicht alle Stämme nahmen daran Anteil, so die Samariter. Das antike Königreich ‚Juda‘ war eines der wechselnden hebräischen Reiche.[1]
Soweit die Legende, wie die offizielle jüdisch-israelische Geschichtskonstruktion sie uns erzählt. Aber: Für die Existenz der zwölf Stämme der Hebräer gibt es keinen archäologischen oder wissenschaftlich belastbaren Beleg außerhalb der hebräischen Bibel, und diese Bibel ist ein theologisches Werk, welches über Jahrhunderte nur mündlich überliefert wurde.
„Diese Deutung der jüdischen Geschichte ist das Werk versierter Vergangenheitskonstrukteure, deren blühende Fantasie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Versatzstücken der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte eine ununterbrochene Stammesgeschichte für das jüdische Volk erfand.“
(Schlomo Sand). [SAN2]
Man darf also sagen: die etablierte jüdische Nationalgeschichte ist eben genau das: eine Geschichte, eine Erzählung. Mehr dazu unten im Kapitel Sind die Juden ein Volk?
So etwas wie eine gesicherte Historie haben wir erst seit der römischen Eroberung durch Pompeius 63 v. Chr. Als Rom diese Gebiet eroberte, richtete es die Großprovinz Syria und später Iudaea ein, darin Verwaltungsgrenzen, die nichts mit den biblischen Stammesgebieten zu tun hatten (Anhang V). Zudem wurde die ursprüngliche Großregion Iudaea nach dem Tod von Herodes dem Großen (Herrscher 37 v.Chr. bis 4 n.Chr.) unter seinen Söhnen in drei Teile aufgeteilt. Die südliche, größte Region war das eigentliche Judäa. In der Mitte war die Region Samaria, im Norden die Region Galiläa. Jerusalem als spirituelles Zentrum der Hebräer lag mitten in Judäa. Im Neuen Testament findet sich dementsprechend häufig als Herkunftsbezeichnung das Wort „Judäer“, lateinisch Iudaeus, griechisch Ιουδαίος (Iodaios). Nazareth sowie der See Genezareth, wo ein Großteil des Neuen Testaments sich abspielt, gehörten zu Galiläa. Wenn Jesus in Bethlehem/Judäa geboren war, aber in Nazareth/Galiläa wohnte und wirkte, darf man ihn ebensogut als Judäer wie als Galiläer bezeichnen.
Somit bezeichnet Ιουδαίος / Iudaeus ursprünglich einen Mann aus römischen Provinz Judäa. In dieser Provinz lebten nicht nur Anhänger des Mosaismus, sondern auch andere Stämme und Völker. Judäa war weder identisch mit dem legendären antiken Königreich Juda, noch mit dem deutlich größeren legendären Siedlungsgebiet der hebräischen Stämme.
Nach dem jüdischen Krieg der Römer gegen judäische Aufständische, der 70 n.Chr. zur zweiten Zerstörung des Tempels in Jerusalem führte, wurde den Israeliten verboten, im Umfeld von Jerusalem zu siedeln, der JHWH-Kult verlor seinen heiligsten Ort.
Nach dem folgenden judäischen Bar-Kochba-Aufstand, der von den Römern im Jahr 136 niedergeschlagen wurde, wurde die Provinz neu aufgeteilt. Man benannte das Gebiet nun Syria Palaestina (nach dem einst im Küstenstreifen beheimateten Volk der Philister), der Name Judäa wurde zur Strafe getilgt und durfte hinfort nicht mehr benutzt werden. Für eine generelle von den Römern erzwungene Vertreibung des hebräischen Volkes aus Judäa-Palästina ins Exil, die legendäre Diaspora also, gibt es keine belastbaren historischen Belege. Es ist aber nachvollziehbar, daß zumindest die geistigen und politischen Eliten der Israeliten nach dieser wiederholten Zerstörung ihrer Strukturen durch die Römer es vorzogen, lieber außerhalb des römischen Machtbereichs einen Neubeginn zu suchen, insbesondere in Babylonien. Judäa jedenfalls existierte nicht mehr, weder als Volk noch als Region noch als Name.
Soweit die verwickelte Historie der Region und des Wortes Judäa.
Der Engländer Wycliffe also übersetzte aus der lateinischen Vulgata-Bibel, und er stieß nun auf diese Herkunftsbezeichnung. Das historische Gebilde Iudaea / Judäa hatte aber aufgehört zu existieren, lange bevor die englische Sprache sich formte, also gab es für Iudaeus noch kein englisches Wort. Wycliffe wurde kreativ und schuf das neue Kurzwort „gyu“, woraus später (nach Einführung des Buchstaben J ins Englische) dann „jew“ wurde. In englischer Aussprache klingt das wie die erste Silbe des lateinischen Wortes, also „Iu“. [FRE1]
Die Anhänger des Mosaismus hatten schon in der Thora ein allgemein übliches Kurzwort für alle Andersgläubigen, nämlich das hebräische und jiddische Wort Goj (גּוֹי, Plural גּוֹיִם gojím‚ Völker), was Luther mit Heiden übersetzte, im Englischen ist Gentiles üblich (von lat. gentes, Völker), im Deutschen Nichtjuden – aber ein Sammelbegriff ‚Jude‘ als Selbstbezeichnung kommt weder in den althebräischen Texten, noch im lateinischen und griechischen NT-Urtext, noch im Talmud vor. Die Menschen, die sich heute Juden nennen, bezeichneten sich damals selbst als hebräische Stämme oder Hebräer, später als das Volk Israel (hebräisch ישראל) bzw. Israeliten für jenen Teil, der am JHWH-Kultus teilnahm. Auch in der Bibel steht meist ‚Israeliten‘, wenn das gesamte Volk bzw. die gesamte Religionsgemeinschaft des Mosaismus gemeint ist, dagegen ‚Judäer/Jude‘ eher, wenn die Region Iudaea gemeint ist.
Mit dem Erfolg der Bibelübersetzungen übernahmen die Europäer aber das praktische Kurzwort ‚Jew / Jud‘ allmählich in den allgemeineren Sprachgebrauch. Bis zum 18. Jahrhundert hatte es die früheren Bezeichnungen vollständig verdrängt und war auch von den Anhängern des Mosaismus als Selbstbezeichnung akzeptiert. Nur wenige bevorzugten weiter das korrekte Wort ‚Israelit‘[2], die klassische Selbstbezeichnung aus dem Talmud.
Dabei verschob und erweiterte sich die Bedeutung: ‚Jude‘ löste sich von der Region ‚Judäa‘ und sollte nun allgemein die Nachfahren und geistigen Erben des Volkes Israel einschließen [ORR] somit auch alle Menschen, die jemals zum mosaischen Glauben bekehrt wurden, die zu dieser Religion konvertiert waren – das ist entscheidend, denn wir werden später sehen, daß frühe Konvertiten die bei weitem größte Gruppe sind!
Nochmals: der Begriff Ιουδαίος bezieht sich im griechischen Urtext des Neuen Testaments auf die Region Judäa, nicht auf eine Religionszugehörigkeit. Für den religiösen Aspekt hat das Griechische ein anderes Wort, nämlich Εβραίος (Evraíos = Hebräer) oder Ισραηλίτης (Israïlítis = Israeliten). Im modernen Griechisch kommt als weitere Differenzierung dazu Ισραηλινός (Israïlinós) für Bürger des Staates Israel [3].
Dennoch haben die westlichen Bibelübersetzer seit Wycliffe in fast allen Fällen das altgriechische Wort Ιουδαίος (Ioudaios = der Judäer) mit ‚der Jude’ übersetzt, den Plural Ιουδαίοι (Ioudaioi = die Judäer) mit ‚die Juden‘ und den Genitiv-Plural Ιουδαίων (seitens der Judäer) mit ‚von den Juden‘. Eine Ausnahmen ist das Münchener Neue Testament von 1998, welches sich um bestmögliche wörtliche Nähe zum griechischen Urtext bemüht und die Übersetzungstradition ignoriert.
Ein prominentes Beispiel, Johannes 4:22
- im Urtext „ὅτι ἡ σωτηρία ἐκ τῶν Ἰουδαίων ἐστίν“ (hoti hē sōtēria ek tōn Ioudaiōn estin), wörtlich: denn die Rettung aus der Judäer
- Die lateinische Vulgata sagt „quod scimus quia salus ex Iudaeis est“: denn wir wissen, daß das Heil aus den Judäern
- Richtig übersetzt die King James Bible in der 1611 gedruckten Urfassung noch „…but salvation cometh out of Judea“ (doch die Erlösung kommt aus Judäa).
- Jedoch ab der Fassung von 1769 wurde daraus angepasst „for salvation is of the Jews“ (denn die Erlösung ist von den Juden).
- Ebenso steht in der alten Lutherbibel „…denn das Heil kompt von den Jüden“ (sic!).
- Allein im Münchener Neuen Testament findet sich heute noch „denn das Heil ist aus den Judaiern“.
Nur in den seltenen Fällen, wo das Stammwort Ιουδαίᾳ (Judäa) die geographische Bedeutung erzwingt, blieb sie auch erhalten. So 1. Thessalonicher 2:14 bei Luther „…der Gemeinden Gottes in Judäa in Christo Jesu“.
Heute trägt der Begriff ‚Jude‘ praktisch ausschließlich die sekundäre Bedeutung: ein Angehöriger der Gesamtgemeinschaft der Juden, worauf auch immer diese Angehörigkeit beruhen mag.
[1] Zwischenzeitlich geriet das Land ab dem 6. Vorchristlichen Jahrhundert etwa 200 Jahre unter persische Herrschaft und wurde zur persischen Provinz Jehud.
[2] So auch Lazarus Goldschmidt (geb. 1871 als Elieser ben Gabriel in Litauen) in seiner deutschen Talmud-Übertragung von 1930-36 [GOL], er spricht durchgängig von „Jisraélit“. Bemerkenswert, daß Goldschmidt unter der NS-Regierung weiter in Berlin arbeiten und im Jüdischen Verlag Berlin publizieren durfte.
[3] Eine ausführliche Diskussion des Begriffes ‚Ioudaios‘ und seiner Bedeutungen hier in der englischen Wikipedia.