Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität

Johannes Freiland, 23.09.2024

2.  Kurze Chronologie des Judentums

Zur Orientierung eine ungefähre Chronologie des Judentums in elf Perioden (alle Daten aus Wikipedia):

  1. Die mythische Vorzeit, von der Vertreibung aus dem Kindergarten Eden, über Abraham, die Sintflut, die allmähliche Seßhaftwerdung in Kanaan (wie das Land zuerst hieß), die Zeit des Moses, die Entstehung der Thora.
    Hierüber gibt es kaum haltbaren Fakten, nur Legenden.
  2. Die klassische Blütezeit der Königreiche Israel und Juda und des ersten Tempels in Jerusalem, 957-597 v. Chr. bis zur Eroberung von Kanaan und Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen König Nebukadnezar II.
    Auch über diese Periode gibt es wenig klare Fakten. Das Alte Testament steht nicht im Einklang mit der Geschichtsforschung, es stellte außerdem bis hierher nur eine mündliche Überlieferung dar.
  3. Das babylonische Exil ab 597-539 v. Chr., es betraf nur die hebräische Oberschicht von ca. 5000 Personen, die nach Babylon verbracht wurden, damit sie in Kanaan keine Unruhe stiften konnten. Erst in Babylon beginnt eine schriftliche Überlieferung und Kodifizierung der ‚heiligen Schriften‘. Das Exil endet mit der Eroberung Babylons durch die Perser, die der hebräischen Elite die Rückkehr gestatten. Aber nur ein Teil kehrt zurück.
  4. Die Zeit des zweiten Tempels in Jerusalem ab 515 v. Chr. unter wechselnder Oberherrschaft bzw. Reichszugehörigkeit.
    Wandlung der hebräischen Religion unter dem Einfluß der babylonischen und persischen Kulte, Radikalisierung und Formalisierung durch die mächtige Priesterkaste der Pharisäer. Ausbreitung der hebräischen Religion in Afrika und Kleinasien durch Auswanderung und Bekehrungen.
    Einen großen Teil der Juden der klassischen Periode bilden Konvertiten der Phönizier (nördliche Levante, hauptsächlich Libanon) und Punier (Nordafrika, hauptsächlich Karthago), beides genetisch mit den Judäern verwandte semitische Völker, die jedoch nicht der mosaischen Religion anhingen, sondern Heiden blieben (Ba‘al Kult). Die Punier entstanden als phönizische Kolonien in Nordafrika. Die Phönizier waren kulturell höher entwickelt als die Judäer, auf dem Niveau der Griechen. Vor allem waren sie hervorragende Seefahrer und Händler. Nach dem Untergang Karthagos in den punischen Kriegen und der vollständigen Unterwerfung durch Rom 201 v. Chr. konvertierten viele Phönizier zur monotheistischen mosaischen Religion ihrer bäuerlichen Vettern aus Judäa, auf die sie zuvor herabgeschaut hatten. Sie waren es, die all das kaufmännische Wissen und die Bildung einbrachten, womit man Juden gewöhnlich identifiziert.
  5. Die römische Besatzung ab 63 v. Chr., Einrichtung der römischen Provinzen Syria, Galilaea, Samaria und Judaea. (siehe Anhang IV)
    Ab hier gibt es eine eindeutige Geschichtsschreibung. In dieser Zeit spielt das Neue Testament.
  6. Ab der Zerstörung der zweiten Tempels 70 n. Chr. durch die Römer – die hebräische Oberschicht weicht in zwei Wellen wieder nach Babylon aus, unter den Schutz Persiens. Dort entsteht der Talmud. Die hebräische Religion wird dort kodifiziert, kanonisiert und vollständig schriftlich fixiert, sie teilt sich auf in die drei Aspekte Bibel, Talmud und esoterische Tradition – letztere weiterhin mündlich und geheim.
    Der Name Judäa erlischt, die Römer benennen die Provinz um in Das alte Land erlebt zuerst eine Welle der Christianisierung, nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches ab 637 dann eine Zwangs-Islamisierung. Wer die hebräische Religion beibehalten will, verläßt das Land; wer bleibt, muß konvertieren – das sind die Vorfahren der heutigen Palästinenser.
    Entstehung der Sephardim (Westjuden) in Nordwestafrika und Spanien, maurische Kultur.
  7. Mittelalterliche Wanderungen und Bekehrungswellen, Entstehung der Aschkenasim (Ostjuden) durch Bekehrungen im Chasarenreich und in (vorchristlichen) deutschen Landen.
    Zeitweilige Vertreibung aus England (1290), aus Frankreich (1306), aus Spanien (1492 Ausweisungsedikt), Verdrängung aus Rußland (16. Jhd.) nach Polen-Litauen-Galizien, jeweils gefolgt von späterer Rückkehr. Die Ostjuden etablierten sich hauptsächlich im osteuropäischen „Ansiedlungsrayon“ mit bis zu 17% jüdischem Bevölkerungsanteil [1] meist in abgesonderten Wohnsiedlungen (Schtetl, Ghettos), ein weit kleinerer Teil auch in Mitteleuropa in eigenen Stadtteilen (Judengassen) und zugewiesenen Dörfern.
    Entstehen der jiddischen Kultur mit Zentrum in Osteuropa.
    Betätigung als Händler und Geldverleiher, in Osteuropa auch als Gastwirte und Bauern. Spitzenpositionen als ‚Hoffaktor‘ an mitteleuropäischen Fürstenhöfen begründen große jüdische Finanz- und Handels-Dynastien.
    Verschriftung der esoterischen Tradition der Kabbala.
  8. Die Zeit der europäischen Haskala (Aufklärung und Öffnung) ab Mitte 18. Jhd.
    Rascher gesellschaftlicher Aufstieg der reformierten weltlichen Juden in Positionen mit viel Macht und Einfluß (Bankiers, Juristen, Politiker, Verleger, Kulturschaffende). Gewaltsame Vertreibung 1881 aus dem russischen Zarenreich, häufige Auswanderung in die USA, insbesondere nach New York.
  9. Politische Radikalisierung und gewaltsamer globaler Aktivismus von sekulären Juden ab Ende des 19. Jhd.
    Marxismus-Bolschewismus mündet in die Zerstörung des Zarenreiches und die Gründung der UdSSR.
    Zionismus, erneute Einwanderung von Juden nach Palästina.
    Schlüsselrolle von Zionisten im Ersten Weltkrieg, bei der Zerstörung und Zersplitterung von Deutschem Kaiserreich, Osmanischem Reich, Kaiserreich Österreich-Ungarn, bei den Versailler Verhandlungen.
    Dominante Position in der Weimarer Republik, während der Hyperinflation Aufkauf deutscher Industrie, Gewerbe und Liegenschaften zum Spottpreis durch jüdische Bankiers mit Devisen, Installation von Juden in fast allen gesellschaftlichen Führungspositionen.
  10. Ab 1933 Gegenreaktion des Deutschen Reichs unter Hitler, Einschränkung der jüdischen Geschäftstätigkeiten besonders im Finanzbereich, Enteignung (Arisierung) von wichtigen Banken und Großbetrieben, Vertreibung bzw. Transfer nach Palästina (Ha’avara Transferabkommen mit Zionisten in Palästina und Deutschland).
    Schlüsselrolle amerikanischer und britischer Zionisten bei der Anbahnung und Durchführung des Zweiten Weltkriegs schon seit 1933. Masseninternierung von Juden insbesondere in den eroberten Ostgebieten (Schoa). Abermalige Zerstörung Deutschland, Unterwerfung Mitteleuropas unter angelsächsische Besatzung (im Westen) beziehungsweise unter den Bolschewismus (im Osten).
  11. Ab 1944 gewaltsame Vertreibung der Mandatsmacht Großbritannien aus Palästina durch zionistische Milizen, Staatsgründung Israels 1948, gewaltsame Vertreibung und Enteignung der Palästinenser durch die Zionisten (Nakba), seither dauerhafter Nahost-Konflikt.
    Ab 1945 faktische Kontrolle der Zionisten über die Weltmacht USA, stete Teilhabe an der US-Regierung.
    Kalter Krieg und kommunistische Spionage.

In jeder dieser Perioden war das Selbstverständnis der Juden bzw. der verschiedenen jüdischen Gruppierungen ein anderes. Für jede dieser Perioden müßte die Frage „wer gehört dazu und warum?“ neu gestellt und beantwortet werden.


[1]     Als „Ansiedlungsrayon“ wird das Gebiet im europäischen Westen des Russischen Kaiserreiches bezeichnet, auf das zwischen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung beschränkt war. Das Gebiet war zuvor größtenteils Bestandteil Polen-Litauens gewesen und mit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft gelangt. Der Ansiedlungsrayon, der sich von der baltischen Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte, umfaßte mehr als eine Million Quadratkilometer. Dort lebten Ende des 19. Jahrhunderts beinahe fünf Millionen Juden, die nach dem offiziellen Zensus von 1897 durchschnittlich 11,5 % der Bevölkerung ausmachten (gegenüber 0,5% im Deutschen Reich). Der jüdische Bevölkerungsanteil im übrigen Russischen Reich lag bei 0,38 %