Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität
Johannes Freiland, 23.09.2024
1. Nationale Geschichtserzählung vs. wissenschaftliche Geschichtsforschung
Bei allen historischen Betrachtungen zum Judentum ist zu berücksichtigen, daß es zwei unterschiedliche Versionen dieser Historie gibt:
- Die zionistisch-nationale Geschichtserzählung, die sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte, ist bestrebt, die Judenheit als einheitliches Volk und Teil der semitischen Rasse mit gemeinsamer Abstammung aus Judäa-Palästina hinzustellen. Sie betrachtet die hebräische Bibel als Geschichtsbuch und macht keinen Unterschied zwischen Religion, Kultur und Ethnie.
- Die wissenschaftliche Geschichtsforschung durch Soziologen, Orientalisten, Linguisten, Geographen, Politologen, Literaturwissenschaftler und Archäologen hat ab den 1980 Jahren den zionistischen Narrativ vollständig widerlegt.
Auch die jiddischen Historiker des 18. Jahrhunderts betrachteten das Alte Testament noch nicht als historischen Tatsachenbericht, sondern als theologisches Werk.
Dementsprechend müssen wir manchmal zweigleisig fahren, denn wir wollen ja verstehen, wie die heutigen Juden mehrheitlich von sich selbst denken. Der israelische Historiker Schlomo Sand faßt die zionistische Position so zusammen: [SAN2]
Für einen Israeli besteht kein Zweifel, daß das jüdische Volk existiert, seit es auf dem Sinai von Gott die Thora empfing und daß er selbst dessen direkter Nachkomme ist. Er glaubt auch, daß sich dieses Volk, aus Ägypten kommend, im „gelobten Land“ niederließ, wo das ruhmvolle Königreich Davids und Salomos entstand, das sich später in die Reiche Judäa und Israel teilte. Und er weiß, daß es zweimal vertrieben wurde – im sechsten vorchristlichen Jahrhundert nach der Zerstörung des Ersten Tempels und im Jahr 70 n. Chr., nach der Zerstörung des Zweiten Tempels.
Darauf folgten knapp zweitausend Jahre des Umherirrens. So verschlug es das jüdische Volk in den Jemen, nach Marokko, nach Spanien, nach Deutschland, Polen und bis weit nach Rußland hinein. Doch es gelang ihm stets, die Blutbande zwischen seinen versprengten Gemeinden zu bewahren. Deshalb blieb seine Einzigartigkeit erhalten. Ende des 19. Jahrhunderts reiften die Bedingungen für seine Rückkehr in die uralte Heimat heran. Ohne den Völkermord der Nazis hätten Millionen Juden nach und nach und in aller Selbstverständlichkeit Eretz Israel (das Heilige Land: die geographische Region Israel) wieder besiedelt, denn davon träumten sie seit zwanzig Jahrhunderten.
Unberührt lag Palästina da und wartete auf sein ursprüngliches Volk, auf daß es das Land wieder zum Erblühen brächte. Denn es gehörte ihm, nicht dieser geschichtslosen Minderheit, die der Zufall dorthin verschlagen hatte. Gerecht waren also die Kriege, die das verstreute Volk führte, um sein Land wieder in Besitz zu nehmen; und kriminell war der gewalttätige Widerstand der ansässigen Bevölkerung.
Nichts davon stimmt. Aber dieser Narrativ wird an Schulen und Hochschulen in Israel und USA gelehrt und ist auch Allgemeinbildung des durchschnittlichen Europäers. Als Gründungsmythos Israels dient er dazu, die Landnahme in Palästina seit 1921, die Gründung des Staates Israels 1948 und die gewaltsame Beraubung und Vertreibung der vorigen Einwohner dieses Landes zu rechtfertigen.
Im Folgenden werden wir die Elemente dieser Geschichtserzählung betrachten und berichtigen, um dann zu zeigen, was Jüdischkeit ausmacht, wie man die besondere Gemütsverfassung und Denkweise dieser Menschengruppe beschreiben und verstehen kann.