Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität

Johannes Freiland, 01.10.2024

15.  Gog und Magog, Saul und Amalek – theologische Überhöhung der Gewalt

Die apokalyptische Prophezeiung von „Gog und Magog“ (Hesekiel 38-39) nimmt im Denken der Aschkenasim und der Israeli einen besonderen Platz ein. Es ist die letzte Schlacht der Mächte der Finsternis, angeführt vom Herrscher Gog aus dem Lande Magog, gegen die Kinder Israels, wobei schließlich Gott eingreifen wird und endlich seinen Messias schickt, um alle Feinde vollständig zu vernichten und Zion neu zu errichten. [1]

Man kann leider das Handeln des Staates Israel nicht verstehen, ohne diese irrationale bis wahnwitzige theologische Komponente zu berücksichtigen, die die israelische Politik prägt und begleitet und gesellschaftlich auch breit diskutiert wird. Bei jeder militärischen Aktion des Staates Israel oder seiner Gegner rufen israelische Rabbiner und zionistische „Christen“ die mythologischen Bilder der Schlacht von Gog und Magog auf[2], um jedwede israelische Gewalt theologisch zu rechtfertigen und die israelischen Politiker, Soldaten und Siedler anzustacheln. So auch ab 2023 wieder beim Völkermord in Gaza, bei den Übergriffen in der West Bank, bei Angriffen gegen Libanon, Syrien und Iran.

Martin Buber erzählt in seinem Buch „Gog und Magog – eine Chronik“ [BUB1], wie im polnischen Lublin ein führender chassidischer Rabbi die Napoleonischen Kriege (1791-1815) als diese Endschlacht interpretierte, und durch „theurgische Handlungen der praktischen Kabbala“ – also mit speziellen Gebeten und Riten – schwarzmagisch eingriff, um die Schlachten zu eskalieren und so das ersehnte Erscheinen des Messias zu erzwingen. Er identifizierte Napoleon als Gog und wollte ihn magisch stärken, um so zu erzwingen, daß der Messias erscheinen muß, um gegen ihn zu kämpfen. Ein anderer Rabbi wiederum wirkte dagegen, schwächte Napoleon und vereitelte den Plan. Das gesamte Buch hindurch schildert Buber die theologischen Diskurse für und wieder, und wie die Parteien in Worten und Magie miteinander ringen. Aus dem Kapitel „Die Predigt von Gog“ eine wortgewaltige Passage:

Und so wütig auch die Finsternis überschwillt, nie gelingt es ihr, den Samen des Lichts zu ersticken. Immer neu wird das Licht geboren. Aber immer wieder verzehrt es sich und erlischt. Es erlischt, aber sein Leben geht in die Kraft ein, aus der je und je wieder der Same des Lichts erwacht. Und die Kraft wächst. Sie ist wund und weh von all dem Verlöschen der Lichter, aber sie wird stärker und stärker. Das ist es, was vom Messias erzählt wird, daß er als aussätziger Bettler an den Toren Roms sitzt und seine Beulen verbindet; aber er wird stärker und stärker, und würde er an den Toren rütteln, er zerbräche sie; denn der Messias ist das Bild und Gleichnis jener Kraft. Und das Wachstum seiner Stärke ist vorbehalten für den großen letzten Kampf. Denn auch die Kraft der Finsternis wächst, und immer dichter und gieriger sind die aus ihr gehauenen Stücke, die auf die Wege der Welt geschickt werden; und immer gewaltiger ruft ihre Macht die Gegenkraft des Lichtes auf. Und es ist geweissagt, daß die Stunde kommt, wo eine ungeheure Flamme des schwarzen Feuers sich über die siebzig Völker wälzt, sie mit sich reißt und Gott selber zum Kampf herausfordert. Das ist der Mann, der der Gog des Landes Magog genannt ist. Und auch zu ihm spricht der Herr, daß er ihn abkehren und hochtreiben und ihn von der Flanke des Nordens zu den Bergen des Landes Israels bringen wird, wo er fallen soll. Fallen aber wird er von der Hand dessen, dessen Hand zum Zeichen der Vollmacht ausgerüstet wird, wie es in den letzten Worten des Königs David heißt, „mit Eisen und Holz des Speers“.
Wir haben gelernt, daß Gottes Handeln in den Kämpfen Gogs und Magogs seinem Handeln in der Befreiung aus Ägypten entspricht und seine Offenbarung an die Völker nach dem Sieg seiner Offenbarung an Israel am Sinai. Die Wege jenes Handelns gehen durch die Finsternis, aber der Weg der Offenbarung geht durch das Licht.

Wen die radikalen Rabbis und Zionisten gerade für Gog halten, das wechselt je nach den aktuellen Propaganda-Erfordernissen. Man mache sich den Spaß, die Worte „Gog Magog Hamas“ zu googeln. Napoleon war Gog, Zaren waren Gog, Hitler war Gog, sogar Obama war mal Gog (als er einen Vertrag mit Iran schloß), heute ist es mal Assad, mal Erdogan, mal Putin, mal der jeweilige Führer von Hisbollah oder Hamas; mal ist Magog der Iran, mal Libanon, mal Rußland, mal China[3]. Da es offensichtlich noch nie zum Endkampf kam, waren alle bisherigen Zuschreibungen über die Jahrtausende offensichtlich völliger Wahn. Aber das ficht die Rabbis und radikalen Theologen nicht an, das Prinzip bleibt: wer auch immer dem Staat Israel im Wege steht, wird flugs zu „Gog / Magog“ erklärt. Der Endzeitwahn schließt als Option nicht einmal einen Atomkrieg aus, ersehnt ihn sogar, wenn er nur die letzte Schlacht und damit die endgültige Erlösung herbeizwingt.

Eine weitere Bibelstelle ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, um die unmenschliche Grausamkeit und Schonungslosigkeit der israelischen Militärs gegenüber ihren Gegnern zu begreifen, die uns bei den Berichten aus Gaza immer wieder fassungslos macht. Wir hatten bereits diese Stelle zitiert:

Samuel 15,3
„Nun zieh hin und schlage Amalek! Und vollstreckt den Bann an ihnen, an allem, was es hat, und verschone ihn nicht, sondern töte Mann und Frau, Kind und Säugling, Rind und Schaf, Kamel und Esel!“

Die Geschichte geht noch weiter. Dieser Vernichtungsbefehl des JHWH erging durch den Propheten Samuel an Israels König Saul. Saul jedoch versäumt es, diesen Befehl wortgetreu zu befolgen, sondern seine Leute lassen einige Nutztiere der Amalekiter am Leben, und zunächst auch deren König Agag. Für diesen Ungehorsam gegenüber dem Befehl zur restlosen Auslöschung wird Saul von JHWH bestraft. Er verliert sein Königtum, sein Nachfolger wird König David.

20 Saul antwortete Samuel: Ich habe doch der Stimme des HERRN gehorcht und bin den Weg gezogen, den mich der HERR sandte, und habe Agag, den König von Amalek, hergebracht und an den Amalekitern den Bann vollstreckt. 21 Aber das Volk hat von der Beute genommen Schafe und Rinder, das Beste vom Gebannten, um es dem HERRN, deinem Gott, zu opfern in Gilgal. 22 Samuel aber sprach: Meinst du, daß der HERR Gefallen habe am Brandopfer und Schlachtopfer gleichwie am Gehorsam gegen die Stimme des HERRN? Siehe, Gehorsam ist besser als Opfer und Aufmerken besser als das Fett von Widdern. 23 Denn Ungehorsam ist Sünde wie Zauberei, und Widerstreben ist wie Abgötterei und Götzendienst. Weil du des HERRN Wort verworfen hast, hat er dich auch verworfen, daß du nicht mehr König seist.

Kurz gefaßt: selbst minimalste Schonung des Feindes, selbst seiner Tiere, war Ungehorsam, und jeder Ungehorsam selbst dem grausamsten und sinnlosesten Befehl des „Herrn“ gegenüber ist Sünde wider den „Herrn“. Nicht das geringste Mitleid darf Amalek gezeigt werden, weder Kämpfern noch Zivilisten, weder Frauen noch Kindern, nicht einmal Nutztieren. So kann Völkermord an Nichtjuden in der jüdischen Orthodoxie tatsächlich als „Mitzwa“, als gottgebotene gute Tat betrachtet werden [RJP].

Ebendiese Amalek-Rhetorik haben Ministerpräsident Netanyahu und Mitglieder der Knesset und des Militärs mehrfach gebracht[4], um den Krieg gegen die Palästinenser einzuordnen. Es ist stets nur eine radikale Minderheit der Juden, die so denken – viele jüdische Stimmen wenden sich dagegen – aber leider haben eben diese radikalen Bibel-Psychopathen die Führung von Israels Staat und Militär inne, und sie haben die volle Unterstützung der US-Regierung in beiden Lagern.

Bei den ausführenden Militärs gilt das als Freibrief sogar für unverhohlenen Sadismus einschließlich systematischer brutaler und sexueller Folter von gefangenen Zivilisten[5], die ohne Anklage inhaftiert waren, sogar von Kindern. Die israelische Gesellschaft duldet das nicht nur, sie heißt es gut, nimmt die Täter in Schutz und vereitelt deren Strafverfolgung. Israels Oberstes Gericht hat 1996 die Folter von Gefangenen ausdrücklich legalisiert.

Das Muster ist also: die gewaltsamen Konflikte der Israeli mit ihren Nachbarn werden theologisch überhöht, damit werden sie auf menschlicher und politischer Ebene unlösbar, sie verlassen die menschliche Dimension.


[1]     Die Namen Gog und Magog kommen als Bezeichnung für einen Endkampf auch in Offenbarung 20,7-9 als christliche Fassung dieser Legende vor, wobei aus Gog und Magog zwei feindliche Völker werden; der Koran bringt in Sure 18, Verse 83–98 die muslimische Fassung.
Nebenbei bemerkt sind Gog und Magog (die christliche Version als satanische Riesen und Gegner Christi) die Schutzpatrone der extraterritorialen „City of London“ und werden jährlich am 2. November in einer Prozession durch diese Hauptstadt des Mammon getragen.

[2]     Einige Beispiele: Artikel „The Gog Magog War Is at Israel’s Door“ im JerusalemChannel.TV, Artikel „Is Israel on the verge of the Gog-Magog War?“ in AllIsrael.com, Artikel „Gog of Magog: Who Is The Russian Leader At The Center Of The Ezekiel 38 Prophecy?” in harbingersdaily.com, Artikel “Gog and Magog ‘Chaos’ Appearing Now in Unholy US-Hezbollah-Assad Alliance” in Israel365news.com, Artikel “Is the Israel-Hamas war the war of Gog and Magog?” in The Jerusalem Post

[3]     Die radikalen Islamisten identifizieren wiederum Magog mit Israel, USA und Großbritannien, Gog mit dem Anführer Israels.

[4]     Einige Beispiele von hunderten: Artikel „The Dangerous History Behind Netanyahu’s Amalek Rhetoric“ bei Mother Jones, Artikel „Comparing Hamas to Amalek, our biblical nemesis, will ultimately hurt Israel” bei The Jewish News, Artikel “Facing Amalek” bei JewishCurrents

[5]     Siehe Bericht der Journalistin Ashira Darwish auf den Nachdenkseiten, 24.09.24 und den Film „Where Olive Trees Weep“ (wo Olivenbäume weinen)