Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität

Johannes Freiland, 01.10.2024

13.  Auserwähltsein und das „Nein zum Leben der Völker“

Wenn man überhaupt einen gemeinsamen Nenner aller Juden finden kann, dann wäre das wohl der unbedingte Glaube an ein Auserwähltsein und Höhergestelltsein, in Nordamerika bekannt als Exceptionalism (Außergewöhnlichkeit). So man sich identifiziert mit einem Auserwähltsein durch den JHWH-Gott, der das Volk Israel über die anderen Völker stellte und dessen Interessen eigenhändig mit harter Hand und mehreren biblischen Völkermorden durchsetzte, kann man sich selbst als auserwählt und zum Herrschen über ‚die anderen‘ berufen fühlen. Und zwar ausdrücklich zum Herrschen über die gesamte Welt und über alle Nichtjuden (Gojim), wie das manche Talmud-Stellen und einflußreiche Rabbiner ganz unverschleiert sagen, siehe Anhang I.

Die Lehre des Moses bringt in erster Linie eine Zweiteilung der Menschheit zum Ausdruck: in ein von JHWH geliebtes Volk und einen von ihm verachteten Rest der Menschheit. Viele Stellen in Thora und Talmud stellen klar, daß den nichtjüdischen Völkern nur ein einziger Daseinszweck zukommt: den Juden zu dienen. Ansonsten sind sie bloße Verfügungsmasse. Sie haben also kein Recht auf ein eigenständiges Leben. Nach Ansicht maßgeblicher Rabbiner stehen die ‚Völker‘ so tief unter den Juden, wie die Tiere unter den Menschen[1].

Auf den Punkt gebracht hat es der jüdische Philologe und Theologe Martin Buber mit seinem Wort [BUB3]:

„Wahrlich, die Judenheit ist das Nein zum Leben der Völker“

Ursprünglich mag das Nein sich bezogen haben auf die Lebensweise der anderen Völker, so daß Gott die Hebräer zu Pionieren einer anderen, neuen Lebensweise berufen hat, nämlich zu Pionieren des Ich-Bewußtseins und des Monotheismus, dem anstehenden Schritt der Bewußtseinsevolution[2]. Falls dem so war, dann wurde dieser Impuls jedoch bald gekapert und umgebogen in eine Verneinung der Menschlichkeit und des Existenzrechts der anderen Völker. Wie sonst soll man begreifen, was JHWH hier und in vielen ähnlichen Bibelstellen befiehlt:

Samuel 15,3
„Nun zieh hin und schlage Amalek! Und vollstreckt den Bann an ihnen, an allem, was es hat, und verschone ihn nicht, sondern töte Mann und Frau, Kind und Säugling, Rind und Schaf, Kamel und Esel!“

Jesaja 34,1-3
„Denn der HERR ist zornig über alle Heiden und grimmig über all ihr Heer. Er wird sie verbannen und zum Schlachten überantworten. Und ihre Erschlagenen werden hingeworfen werden, daß der Gestank von ihren Leichnamen aufgehen wird und die Berge von ihrem Blut fließen.“

Das Höchste, was ein Goj werden kann, ist ein „Gerechter unter den Völkern“ (חסיד אומות העולם Chassid Umot ha-Olam): in Israel ist dies ein offizieller Ehrentitel für einen Goj, der sein Leben selbstlos in den Dienst des Judentums stellt. Gemäßigte Rabbiner gestehen den Gojim immerhin auch zu, durch die Befolgung der „Noachidischen Gebote“ Anteil an der kommenden Welt erhalten zu können. Diese Grundgebote[3] sind wiederum gemeinsamer Bestand auch der Muslime und der Christen, mit Ausnahme der Schächtung.

Der Talmud kennt den ethischen Grundsatz Tikkun Olam (hebr. תיקון עולם, wörtlich etwa ‚Reparatur der Welt‘), übersetzt als Heilung der Welt, Weltverbesserung, Auslöschung des Makels, Wiederherstellung der Harmonie. Manche Juden verstehen dies spirituell, als Auftrag zur inneren Arbeit. Manche verstehen es als handfesten politischen Auftrag, die Welt zu verbessern. Und dies wiederum bedeute, die Welt unter jüdische Oberherrschaft zu stellen, denn eben darin läge die Heilung der Welt! Siehe dazu die Rede von Rabbi Daniel Glatstein (Anhang I). Die Interessen der Nichtjuden spielen dabei nicht wirklich eine Rolle.


[1]     Zum Beispiel dargelegt in der Shiur (Talmud-Lehrstunde) „Jews and Gentiles“ der großen israelischen Talmud-Schule Yeshivat Har Etzion, Netzseite www.etzion.org.il

[2]     Das vollständige Zitat von Buber (1941) lautet: „Bisher hat die jüdische Existenz nur dazu ausgereicht, Götzenthrone zu erschüttern, nicht aber einen Thron Gottes aufzurichten. Das macht die Unheimlichkeit der jüdischen Existenz inmitten der Völker aus. Das Judentum prätendiert das Absolute zu lehren, aber faktisch lehrt es nur das Nein zum Leben der Völker, vielmehr es ist dieses Nein und nichts mehr. Darum ist es den Völkern ein Grauen geworden. Darum muß, wo eins von ihnen dazu übergeht, nicht mehr wie bisher nur in seiner Innerlichkeit, sondern in den Ordnungen der Wirklichkeit sein eigenes Selbst als das Absolute zu setzen, es Israel abschaffen wollen. Darum ist Israel heute, statt mit einem Flug über den Abgrund den Weg der Rettung weisen zu dürfen, zuunterst in den Strudel der allgemeinen Heillosigkeit gerissen.“

[3]     Verbot von Mord, Diebstahl, Götzenanbetung, Unzucht, Gotteslästerung; Verbot, das Fleisch eines lebenden Tieres zu essen (bzw. sein Blut als Sitz des Lebens, daher die Schächtung), Wahrung des Rechtsprinzips