Ursprünge der Balfour Declaration – die Memoiren des James A. Malcolm

Johannes Freiland, 23.07.2023

Anhang 2 – Brief britischer Judenverbände an The Times

Dieser offene Brief wird von James Malcolm erwähnt, er zeigt die vorherrschende antizionistische Position der britischen Juden.


Ansichten der anglo-jüdischen Welt

Ein Brief an The Times

des Gemeinsamen Auslandskomitees des Board of Deputies of British Jews und der Anglo-Jewish Association

veröffentlicht am 24. Mai 1917

 

Das Heilige Land ist notwendigerweise von tiefem und unsterblichem Interesse für alle Juden, als Wiege ihrer Religion, als Hauptschauplatz der biblischen Geschichte und als Ort ihrer heiligen Denkmäler. Sie betrachten das Land jedoch nicht nur als Heiligtum oder Wallfahrtsort.

Seit dem Aufkeimen ihrer politischen Emanzipation in Europa haben die Juden die Rehabilitierung der jüdischen Gemeinschaft im Heiligen Land zu einer ihrer Hauptsorgen gemacht, und sie haben immer die Hoffnung gehegt, dass das Ergebnis ihrer Bemühungen die Wiederherstellung einer jüdischen Gemeinschaft auf palästinensischem Boden sein würde, die der großen Erinnerungen und der Umwelt würdig und eine Quelle der geistigen Inspiration für das gesamte Judentum ist.

Dementsprechend begrüßt das Gemeinsame Komitee mit tiefer Befriedigung die Aussicht auf reiche Frucht ihrer Arbeit, die sich ihm durch den siegreichen Fortschritt der britischen Armee in Palästina eröffnet hat.

Die „Kulturelle“ Politik

In dem Bestreben, in dieser Frage alle Sektionen und Parteien des Judentums in einer gemeinsamen Anstrengung zu vereinen, teilte das Komitee den zionistischen Organisationen bereits im Winter 1914 seine Bereitschaft mit, mit ihnen auf der Grundlage der sogenannten „kulturellen“ Politik zusammenzuarbeiten, die auf den letzten beiden zionistischen Kongressen 1911 und 1913 angenommen worden war.

Diese Kulturpolitik zielt in erster Linie darauf ab, Palästina zu einem geistigen Zentrum des Judentums zu machen, indem den einheimischen Juden und den Kolonisten, die sich ihnen anschließen könnten, solche Lebensbedingungen geboten würden, die es ihnen am besten ermöglichen würden, den jüdischen Genius nach ihren eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Größere politische Fragen, die diesen Hauptzweck nicht direkt betrafen, sollten so gelöst werden, wie es Notwendigkeit und Gelegenheit zuließen. Leider hat sich eine Einigung in diesen Fragen als nicht praktikabel erwiesen, so dass das Gemeinsame Komitee sich gezwungen sieht, seine Arbeit allein fortzusetzen.

Es tut dies auf der Grundlage einer im März 1916 angenommenen Formel, worin es vorschlägt, der Regierung Seiner Majestät zu empfehlen: zum einen die formelle Anerkennung des hohen historischen Interesses, das Palästina für die jüdische Gemeinschaft besitzt; und desweiteren eine öffentliche Erklärung, dass am Ende des Krieges „die jüdische Bevölkerung in den Genuss von bürgerlicher und religiöser Freiheit, gleicher politischer Rechte wie die übrige Bevölkerung, angemessener Einrichtungen für Einwanderung und Kolonisation und solcher kommunaler Privilegien in den von ihr bewohnten Städten und Kolonien, die sich als notwendig erweisen, kommen wird.“

Das ist die Politik des Komitees.

In der Zwischenzeit hat der Ausschuss aus den veröffentlichten Erklärungen der zionistischen Führer in diesem Land erfahren, dass sie jetzt ein viel größeres Vorhaben mit im Wesentlichen politischem Charakter befürworten.

Zwei Punkte dieses Vorhabens stoßen aus offenkundigen Gründen auf schwerwiegende Einwände.

Nationalität und Religion

Die erste ist die Forderung, dass die jüdischen Siedlungen in Palästina als von nationalem Charakter im politischen Sinne anerkannt werden sollen. Wäre diese Forderung von rein lokaler Bedeutung, so könnte man es sich erlauben, sie in Übereinstimmung mit den allgemeinen politischen Erfordernissen der Neuorganisation des Landes unter einer neuen souveränen Macht zu regeln. Das Gemeinsame Komitee hätte in der Tat keine Einwände gegen eine lokale jüdische Nationalität, die sich unter solchen Bedingungen etabliert.

Aber die vorliegende Forderung ist nicht von diesem begrenzten Umfang. Sie ist Teil einer umfassenderen zionistischen Theorie, die alle jüdischen Gemeinschaften in der Welt als eine heimatlose Nationalität betrachtet, unfähig zu einer vollständigen sozialen und politischen Identifikation mit den Nationen, unter denen sie leben, und es wird argumentiert, dass für diese heimatlose Nationalität ein politisches Zentrum und ein immer verfügbares Heimatland in Palästina notwendig sind.

Gegen diese Theorie protestiert das Gemeinsame Komitee mit Nachdruck und Ernsthaftigkeit. Die emanzipierten Juden in diesem Land betrachten sich in erster Linie als Religionsgemein­schaft, und sie haben ihren Anspruch auf politische Gleichberechtigung mit ihren Mitbürgern anderer Glaubensrichtungen immer auf diese Annahme gestützt sowie auf die sich daraus ergebende Folgerung, dass sie keine gesonderten nationalen Bestrebungen in einem politischen Sinne haben. Sie betrachten das Judentum als ein religiöses System, mit dem ihr politischer Status nichts zu tun hat, und sie bekunden, dass sie sich als Bürger der Länder, in denen sie leben, voll und ganz mit dem nationalen Geist und den nationalen Interessen dieser Länder identifizieren.

Daraus folgt, dass die Einrichtung einer jüdischen Nationalität in Palästina, die auf dieser Theorie der Heimatlosigkeit beruht, in der ganzen Welt den Effekt haben muss, die Juden zu Fremden in ihrem Heimatland zu stempeln und ihre mühsam errungene Position als Bürger und Staatsangehörige dieser Länder zu untergraben. Darüber hinaus muss eine jüdische Nationalität, wenn man sie logisch zu Ende denkt, unter den gegenwärtigen Umständen in der Welt ein Anachronismus sein. Da das jüdische Religionsbekenntnis das einzige sichere Merkmal eines Juden ist, muss eine jüdische Nationalität auf der Religion beruhen und durch sie begrenzt sein. Man kann nicht einen Augenblick lang annehmen, dass irgendein Teil des Judentums ein Gemeinwesen anstreben würde, das durch religiöse Prüfungen regiert und in der Frage der Gewissensfreiheit eingeschränkt wird; aber kann eine religiöse Nationalität sich politisch auf irgendeine andere Weise ausdrücken? Die einzige Alternative wäre eine säkulare Nationalität, die auf einem losen und verschwommenen Begriff von Rasse und ethno­graphischer Besonderheit beruht; aber eine solche Nationalität wäre nicht jüdisch in einem geistigen Sinne, und ihre Errichtung in Palästina wäre eine Verleugnung all der Ideen und Hoffnungen, wodurch die Wiederbelebung des jüdischen Lebens in jenem Lande sich dem jüdischen Bewusstsein und Mitgefühl empfiehlt.

Aus diesen Gründen missbilligt das Gemeinsame Komitee die nationalen Vorschläge der Zionisten aufs Schärfste.

Nicht wünschenswerte Privilegien

Der zweite Punkt des zionistischen Programms, der die Bedenken des Gemeinsamen Komitees erregt hat, ist der Vorschlag, die jüdischen Siedler in Palästina mit bestimmten Sonderrechten auszustatten, über die der übrigen Bevölkerung hinausgehend, wobei diese Rechte in einer Charta verankert und von einer jüdischen Handelsgesellschaft verwaltet werden sollen.

Ob es wünschenswert ist oder nicht, irgendeinen Teil der Verwaltung Palästinas einer Handelsgesellschaft anzuvertrauen, muss nicht diskutiert werden, aber es ist sicherlich sehr unerwünscht, dass Juden eine solche Konzession auf der Grundlage politischer Privilegien und wirtschaftlicher Präferenzen erbitten oder annehmen. Ein solches Vorgehen würde sich als wahres Unglück für das gesamte jüdische Volk erweisen. In allen Ländern, in denen sie leben, ist der Grundsatz der Gleichberechtigung aller religiösen Konfessionen für sie lebenswichtig. Würden sie in Palästina ein Beispiel für die Missachtung dieses Prinzips geben, so würden sie sich selbst überführen, aus rein selbstsüchtigen Motiven an dieses Prinzip appelliert zu haben. In den Ländern, in denen sie noch für gleiche Rechte kämpfen, würden sie sich hoffnungslos kompromittiert sehen, während sie in anderen Ländern, in denen diese Rechte bereits gesichert sind, große Schwierigkeiten hätten, sie zu verteidigen. Der Vorschlag ist umso unzulässiger, als die Juden eine Minderheit der Bevölkerung Palästinas sind und wahrscheinlich noch lange bleiben werden, und weil er sie in die erbittertsten Fehden mit ihren Nachbarn anderer Rassen und Religionen verwickeln könnte, was ihren Fortschritt ernstlich verzögern und im ganzen Orient ein bedauernswertes Echo finden würde. Auch für die Zionisten selbst ist der Plan nicht notwendig. Wenn die Juden in einem Wettbewerb, der auf vollkommener Gleichheit der Rechte und Möglichkeiten beruht, die Oberhand gewinnen, werden sie ihre letztendliche Vorherrschaft im Lande auf eine weitaus solidere Grundlage stellen als irgendeine, die durch Privilegien und Monopole gewährleistet werden könnte.

Wenn das Gemeinsame Komitee in diesen Punkten zufriedengestellt werden kann, wird es bereit sein, mitzuarbeiten, um den zionistischen Organisationen die vereinte Unterstützung des Judentums zu sichern.

 

(gezeichnet) David L. Alexander,

Präsident, Board of Deputies of British Jews

 (gezeichnet) Claude G. Montefiore,

Präsident, Anglo-Jewish Association

London, 17. Mai 1917