Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität
Johannes Freiland, 02.10.2024
9. Sind Juden eine Rasse oder Ethnie?
Ein Grundgesetz des orthodoxen Judentums lautet: Jedes Kind, das von einer jüdischen Mutter geboren wurde, ist Jüdin oder Jude. Es ist zwar möglich, nach den orthodoxen Regeln zum Judentum zu konvertieren, doch ist das heute ein langwieriger und anspruchsvoller Prozeß. Sogenannte Vaterjuden, wo der Vater Jude war, die Mutter jedoch nicht, gelten orthodox nicht als vollwertige Juden. Reformierte Juden lassen auch väterliche Abstammung gelten. Dies halte man im Hinterkopf, wenn darüber diskutiert wird, ob ein bestimmter Promi nun Jude sei oder nicht. Aber ob orthodox oder reformiert: Jüdischsein ist heute primär eine Frage der Abstammung, nicht des Glaubens oder der Kultur.
Die überragende Bedeutung von Abstammung und Blutlinie für das religiöse Denken und den gesellschaftlichen Status der Hebräer wurde oben bereits angerissen. Man darf wohl sagen, die Israeliten waren geradezu besessen von Blutlinien! Nicht umsonst bringt die Bibel immer wieder seitenweise lange Stammbäume[1], sogar die Evangelisten Matthäus und Lukas schildern die Blutlinie von Jesus zu Abraham, um diesem hebräischen Bedürfnis nach korrekter Abstammung genüge zu tun[2].
Die hauptsächliche Definition von Jüdischsein ist also biologisch-genetisch, in der Antike wie in der Moderne. Deshalb sagen manche – und die meisten frühen Zionisten wie auch ihre frühen Gegner gehörten dazu –, die Judenheit sei eine Rasse. Beim Wort Rasse zucken die meisten zusammen, da wir uns ab Mitte des 20. Jhd. abgewöhnt haben, in dieser verfemten Kategorie zu denken. Aber der Entwurf der Balfour Declaration[3] sprach 1917 noch von einer nationalen Heimstätte für die jüdische Rasse („National Home for the Jewish Race“), während die spätere offizielle Fassung vom jüdischen Volk („National Home for the Jewish People“) spricht. Der allgegenwärtige Begriff ‚Antisemitismus‘ ergibt nur Sinn, wenn man festhält an der Idee, daß Juden, wenn schon keine eigenständige Rasse, so doch zumindest ein Teil der semitischen Rasse seien – wie Araber, Palästinenser und einige mehr. Nicht zuletzt den Zionisten ist es zu „verdanken“, daß diese Rassen-Definition von Jüdischkeit, die durch die Haskala in Mitteleuropa schon fast überwunden schien, im 20. Jahrhundert wieder mächtig wurde, was schließlich in die unseligen Nürnberger Rassengesetze mündete, an die sich der Staat Israel im Kern bis heute hält, und die sogar aus bekennenden Christen mit jüdischer Abstammung wieder „Juden“ machten.
Die Idee einer ‚jüdischen Rasse‘ ist aber ohnehin unhaltbar, da die heutige Judenheit keinen gemeinsamen genetischen oder regionalen Ursprung hat. Eine gemeinsame Abstammung aus Kanaan-Judäa-Palästina, dem alten Siedlungsgebiet der Hebräer, wird oft behauptet, jedoch ist das zionistische Propaganda. Wir hatten oben schon gesehen, wie das hebräisch-judäische Ursprungsvolk der Antike sich auflöste, mehrheitlich durch Christianisierung oder Islamisierung, nur eine Minderheit hielt am JHWH-Kultus fest und wanderte ab.
Woher kommen die Juden?
Woher stammen die heutigen Juden – die sich als solche identifizieren – denn nun wirklich? Da haben wir eine Gemengelage, die ich nun aufblättern möchte. Die Hauptrolle spielt jedoch stets die Konversion, der Übertritt zum israelitischen Glauben. Wenn wir sagen, die zentrale Definition von Jüdischsein sei Abstammung, dann ist die Periode vom 2. Jhd. v. Chr. bis zum 8. Jhd. eine Ausnahme, denn hier gab es große Wellen von Bekehrungen.
Die Forschung zeigt, daß schon die Israeliten der vorchristlichen Antike viele Völker im Mittelmeerraum zum JHWH-Kultus bekehrt hatten, so die Seleukiden, die von den Makkabäern erobert und bekehrt wurden, Adiabene (heute Kurdistan), einen Großteil der Region Kleinasien (heute Türkei-Griechenland-Syrien-Iran), Teile Arabiens. Schlomo Sand: [SAN2]
Woher kommen also die zahlreichen seit der Antike rund um das Mittelmeer ansässigen Juden, wenn es keine Deportation aus dem römisch besetzten Palästina gab? Hinter dem Vorhang der nationalen Geschichtsschreibung verbirgt sich eine erstaunliche historische Realität: Vom Makkabäeraufstand im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis zum Bar-Kochba-Aufstand von 132 bis 135 n. Chr. war das Judentum die erste Bekehrungsreligion.
Schon die Hasmonäer hatten die südlich von Judäa ansässigen Idumäer und die dem „Volk Israel“ einverleibten Ituräer zwangsbekehrt. Von diesem jüdisch-hellenistischen Reich breitete sich das Judentum über den gesamten Vorderen Orient und die Mittelmeerküste aus. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert entstand im Gebiet des heutigen Kurdistans das jüdische Königreich Adiabene – es blieb nicht das letzte Reich, das sich, neben Judäa, „judaisierte“. Nicht nur die Schriften von Flavius Josephus legen Zeugnis vom Proselyteneifer der Juden ab. Zahlreiche lateinische Schriftsteller, von Horaz bis Seneca, von Juvenal bis Tacitus, äußern eine Furcht vor jüdischer Bekehrung. Mischna und Talmud erlauben den Übertritt.
Mit der konstantinischen Wende zu Beginn des vierten Jahrhunderts, die dazu führte, daß das Christentum im Jahr 380 Staatsreligion wurde, ist die Ausbreitung des Judentums zwar nicht zu Ende, doch wird der jüdische Bekehrungseifer damit an die Ränder des christlichen Kulturraums zurückgedrängt. So entsteht im fünften Jahrhundert im Gebiet des heutigen Jemen das starke jüdische Königreich Himjar, dessen Nachkommen auch nach dem Sieg des Islam bis in die Neuzeit hinein an ihrem Glauben festhielten.
Die bekehrten Völker Kleinasiens und Arabiens wurden jedoch größtenteils erneut bekehrt, legten also den JHWH/Talmud-Kultus wieder ab und nahmen Christentum oder Islam an. Es sind nur einige jüdische Splittergruppen übrig, beispielsweise die Jadidies von Maschhad in Persien, die Donmehs von Saloniki in Griechenland.
Die heutige Judenheit zerfällt in zwei Hauptgruppen, die Aschkenasim (≈92% der Gesamtheit) und die Sephardim (≈8% der Gesamtheit).
Die Sephardim
Die Sephardim (hebr. ספרד Sefarad, die Iberische Halbinsel) verbreiteten sich in der Zeit zwischen der Zerstörung des zweiten Tempels und der Islamisierung über den Orient, Nordafrika und die iberische Halbinsel bis England, Frankreich und Holland (also im Westen Europas). Ihre namensgebende prägende Blütezeit hatten sie im mittelalterlichen Spanien. Ihre Hauptsprache war das Ladino, das sog. Judenspanisch. In ihrer Gestalt wirken sie mediterran, Arabern, Berbern[4] und Palästinensern ähnlich, also durchaus semitisch. Ein Großteil der Sepharden ist jedoch nicht aus Judäa abgewandert, sondern konvertiert. Schlomo Sand: [SAN2]
Arabische Chronisten berichten uns auch von Berberstämmen, die im siebten Jahrhundert zum Judentum übertraten: Dem Vormarsch der Araber nach Nordafrika versuchte die legendäre jüdische Berberkönigin Dihya al-Kahina entgegenzutreten. Judaisierte Berber beteiligten sich an der Eroberung der iberischen Halbinsel. Es war der Beginn der jüdisch-muslimischen Symbiose, die sich in Spaniens maurischer Kulturgeschichte widerspiegelt.
Die Aschkenasim
Die Aschkenasim (hebr. אַשְׁכְּנַז, Ashkenas bedeutet ‚Deutschland‘) sind dagegen europäisch-kaukasischer Herkunft. Ihre Hauptsprache war das Jiddisch, eine deutsch-hebräische Mischung. Zu ihrer Abstammung gibt es zwei wesentliche Hypothesen: die ‚Rheinland-Hypothese‘ und die ‚Chasaren-Hypothese‘ [ELH] [FRA] [FRE1] [KOE] [SAN1].
Kurzgefaßt besagt die Rheinland-Hypothese, nach der Eroberung Palästinas durch den Islam (638 n.Chr.) seien Juden über das Mittelmeer und die Alpen in die deutschen Lande ausgewandert – die damals noch nicht christianisiert waren –, hätten dort in die einheimische germanische Bevölkerung eingeheiratet und sich etabliert. Weiter wird postuliert, eine Welle von deutsch-jüdischen Ostsiedlern hätte sich dann im Spätmittelalter aufgrund günstiger sozioökonomischer Bedingungen in einer Art Hyper-Babyboom explosionsartig vermehrt, und so den Randbereich des russischen Reiches besiedelt. Für diese Hypothese spricht, daß die Aschkenasim das Jiddisch als gemeinsame Muttersprache hatten und sich am stärksten ansiedelten in den deutschen Landen und in deren wirtschaftlich-kulturellem Einflußbereich – der damals von Elsaß-Lothringen und Holland bis zum Baltikum, zum heutigen Weißrußland und zur heutigen West-Ukraine reichte. Die Jeschiwa (Talmud-Schulen) von Mainz, Worms und Speyer genossen schon im 11. Jhd. hohes Ansehen. Die Rheinland-Hypothese kann jedoch nicht erklären, wieso es gerade in Rußland die größte jüdische Population gab (um den Faktor 10 größer als im Deutschen Reich) und wieso das Studium des Babylonischen Talmud, der erst im 6. Jahrhundert abgefaßt wurde, von so zentraler Bedeutung für die Aschkenasim wurde. Außerdem fanden genetische Forschungen [ELH] unter den Aschkenasim zuwenig genetischen Abdruck einer semitisch-mediterranen Herkunft, um diese These zu stützen.
Die Chasaren-Hypothese besagt, daß der Herrscher des chasarischen Großreiches, welches damals den gesamten Kaukasus umspannte (von Kiew und Krim bis zum Aralsee, von Südrußland bis Georgien, siehe Anhang IV) und bevölkert war mit einer Mischung von slawischen, skythischen, hunnisch-bulgarischen, iranischen, alanischen und türkischen Stämmen, eines Tages im 8. Jhd. einen philosophischen Wettstreit zwischen Vertreten von Talmudisten, Christen und Muslimen ausrichteten ließ, um sich dann für diejenige Religion zu entscheiden, die ihn überzeugen würde. Die babylonischen Talmudisten gewannen den Disput, und so konvertierte der Herrscher und mit ihm alle Fürsten ab dem 8. Jhd. zum Talmud-Glauben – das ist historisch gesichert – und wahrscheinlich auch ein Großteil der Völker im chasarischen Einflußbereich [SAN1]. „Der Fürst sandte zu den talmudischen Schulen von Pumbedita und Sura und zog Tausende Rabbiner mit ihren Lehren heran und eröffnete Synagogen und Schulen in seinem Königreich“ [FRE4]. Diese Hypothese erklärt den starken kaukasischen Abdruck in der Genetik und Gestalt der Aschkenasim, die herausragende Bedeutung des Talmuds, das plötzliche Auftreten einer großen Zahl von Juden in der Region, die später nach Westrußland verdrängt wurden. Die Hypothese erklärt allerdings nicht, wieso ein Teil dieser Menschen schon frühzeitig in deutschen Landen lebte und als Muttersprache einen deutschen Dialekt sprach – und nicht etwa einen russischen, was dann naheliegend wäre.
Beide Hypothesen haben Befürworter und Gegner unter den jüdischen Gelehrten. Vermutlich liegt die Wahrheit in der Mitte, d.h. die heutigen Aschkenasim wären eine Mischung aus Chasaren-Juden, die von Mongolen und Russen nach Westen verdrängt wurden, und Deutsch-Juden, die sich mit der sog. hochmittelalterlichen Ostsiedlung der deutschen Völker nach Osten ausbreiteten.
Westjuden und Ostjuden
Man spricht auch bei den westlichen, aus Deutschland kommenden Aschkenasim von „Westjuden“, umgangssprachlich „Jeckes“; bei den östlichen aus Rußland/Polen kommenden Aschkenasim von „Ostjuden“, umgangssprachlich „Polacken“. Diese Begriffe wurden von den Juden selbst geprägt und verbinden sozio-kulturelle Unterschiede mit geographischer Herkunft. Dies wird sehr wichtig, wenn wir die Situation der deutschen Juden in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus betrachten.
Noch einmal Schlomo Sand, der es so zusammenfaßt: [SAN2]
Die bedeutsamste Massenbekehrung ereignete sich im achten Jahrhundert in der Region zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer: Die Chasaren traten geschlossen zur jüdischen Religion über. Die Ausbreitung des Judentums vom Kaukasus bis zur heutigen Ukraine ließ zahlreiche Gemeinden entstehen, die erst die Mongolen im 13. Jahrhundert nach Osteuropa abdrängten. Dort bildeten sie gemeinsam mit den aus den südslawischen Regionen und dem heutigen Deutschland zugewanderten Juden das Fundament der großen jiddischen Kultur.
So oder so sind die Aschkenasim keine einheitliche Ethnie, und vor allem sind sie nicht oder nur unwesentlich mit den Hebräern verwandt. Sie sind Nachfahren von Konvertiten, nicht von Jakob oder Abraham. Auf Jerusalem und Palästina haben sie soviel oder sowenig Anspruch wie Millionen chinesischer Muslime auf Mekka und Arabien. Da sie ethnisch eben keine Semiten sind, ist der gerade seitens der Aschkenasim inflationär gebrauchte Kampfbegriff ‚Anti-Semitismus’sinnwidrig, eine Nebelkerze. Zionisten haben viel Energie darauf verwendet, diesen Kampfbegriff, den es vor 1875 in keinem Lexikon gab, einzuführen. [GRI]
Kulturell und religiös folgen Sepharden und Aschkenasen unterschiedlichen Ansichten und Traditionen, sie stellen auch in Israel jeweils eigene Oberrabbiner.
Cohanim
Außerdem gibt es die kleine Teilmenge der Cohanim (Einzahl Cohen), die sowohl unter Sepharden wie auch Aschkenasen vorkommen und geschätzt 2-5% der Gesamtheit ausmachen. Sie gehörten zur levitische Priesterkaste und haben noch heute eine besondere priesterliche Funktion in den jüdischen Gemeinden. Alle Cohen führen ihre väterliche Blutlinie auf Moses‘ Bruder Aaron zurück, den ersten gesalbten Cohen. Für die Cohanim ist die Reinheit und Kontinuität der männlichen Blutlinie von zentraler Bedeutung, daher war und ist ihnen jede Mischehe und Unzucht verboten, auch die Heirat mit Konvertiten oder Witwen oder Geschiedenen ist untersagt[5], ein Hinweis darauf, daß die alten Talmudisten an Telegonie glaubten (die Theorie, daß frühere Sexualpartner der Frau erheblichen Einfluß auf die Nachkommen des aktuellen Ehegatten haben können). Bei den Cohanim läßt sich genetisch-molukularbiologisch am ehesten die Spur bis Judäa-Palästina verfolgen. [FRE4] [TRA] [KLE] Die deutschen Nachnamen Cohn und Kuhn gehen auf Cohen zurück.
[1] In der Hebräischen Bibel: 1. Buch Mose Kap.5: Stammbaum von Adam bis Noah; Kap.10: Die Völkertafel (Nachkommen Noahs); Kap. 11,10-32: Stammbaum von Sem bis Abraham; Kap. 25,12-18: Nachkommen Ismaels; Kap. 36: Nachkommen Esaus. 2. Buch Mose Kap. 6,14-25: Stammbaum der Söhne Jakobs; 4. Buch Mose Kap. 1 und 26: Volkszählungen mit Auflistung der Stämme Israels; Buch Rut Kap. 4,18-22: Stammbaum von Perez bis David; 1. Buch Chronik Kap. 1 bis 9: Ausführliche Stammbäume von Adam bis zur nachexilischen Zeit, einschließlich der Stämme Israels; Buch Esra Kap. 2 und 7: Stammbäume und Geschlechtsregister der Rückkehrer aus dem Exil; Buch Nehemia Kap. 7: Ähnliche Liste wie in Esra 2.
[2] Matthäus 1,1-17 enthält einen Stammbaum, der mit Abraham beginnt und über 28 Generationen zu Josef führt. Lukas 3,23-38 präsentiert einen anderen Stammbaum, der von Jesus rückwärts über David und Abraham bis zu Adam reicht. Tatsächlich sind dies zwei verschiedene Menschen, an verschiedenen Orten geboren, die beide Jesus heißen.
[3] Der Entwurf wurde abgefaßt von Chaim Weizmann, dem Präsidenten der Zionist World Organisation und späteren ersten Präsidenten Israels. [MAL]
[4] Berber heißen die indigenen Völker Nordafrikas (Marokko, Algerien, Libyen, Tunesien) aus der vorislamischen Epoche, die heute eine Minderheit inmitten einer mehrheitlich arabisierten Gesellschaft sind.
[5] Talmud Jabmuth 94 a: „Es wird gelehrt: Und eine von ihrem Manne geschiedene Frau, selbst wenn sie nur von ihrem Manne geschieden worden ist, ist sie für Priester untauglich. Deshalb heißt es, auch nur der Geruch eines Scheidebriefes mache untauglich für Priester.“