Wer oder was ist jüdisch? Aspekte jüdischer Identität

Johannes Freiland, 04.10.2024

10.  Deutsche Juden zwischen den Stühlen

Ein besonderes Kapitel des Spannungsfeldes Assimilation vs. Absonderung sowie Religion vs. Abstammung sind die reichsdeutschen Juden im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Sie bezeichneten sich selbst auch als „Westjuden“. Der Bevölkerungsanteil dieser Gruppe war mit etwa 600.000 Köpfen[1] eher klein (< 0,75%), und es ging ihnen gut. Nirgendwo waren Juden besser integriert, nirgendwo konnten sie besser leben als in den deutschen Landen seit Preußens Emanzipationsedikt, nirgendwo hatten sie mehr gesellschaftlichen Einfluß und mehr Bildung. Sie hatten auch die Freiheit, durch Übertritt zum Christentum den Status „Jude“ hinter sich zu lassen, so sie es wollten. Viele von ihnen heirateten Christen.

Nirgendwo hatten sie durch den Zionismus mehr zu verlieren, der sie zwingen wollte, zwischen Judentum und Deutschtum zu wählen; der sie zwingen wollte, einen jüdischen Sonderstatus zu behaupten; der sie zwingen wollte, eine biologisch-rassische Definition von Judentum zu akzeptieren. Obwohl die zionistische Weltorganisation ihr Hauptquartier in Berlin aufgeschlagen hatte und von dort aus wirkte, war der aus Osteuropa kommende Zionismus in deutsch-jüdischen Kreisen nicht gelitten, die Zionisten galten unter Sepharden und Westjuden als „osteuropäische Fanatiker“, weshalb die großen zionistischen Kongresse ins schweizerische Basel auswichen.

Als die angelsächsischen Zionisten im Ersten Weltkrieg ab Herbst 1916 die Partei Englands ergriffen und die USA in den Krieg drängten, war das Entsetzen der deutschen Juden entsprechend groß. Die deutsche Kriegswirtschaft wurde seinerzeit geleitet vom Juden Walter Rathenau, dem späteren Außenminister der Weimarer Republik bis zu seiner Ermordung 1922. Etwa 85.000 deutsche Juden kämpften in der Wehrmacht. Es gab seit 1919 den Reichsbund jüdischer Frontsoldaten e.V., seit 1893 den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V. als mitgliederstärksten Judenverband in Deutschland. Diese reichsdeutschen Juden mußten nach dem Versailler Diktat die Zerlegung ihres Vaterlandes, den Siegeszug des angelsächsischen Zionismus und den Ausverkauf der deutschen Industrie an jüdisch-angelsächsische Finanz-Oligarchen miterleben. Sie hatten unter der dadurch verursachten Judenfeindlichkeit am meisten zu leiden. Doch wurde ihnen kaum ein Haar gekrümmt. Manche hatten Verständnis für eine Situation, die sie nicht zu verantworten hatten, manche suchten ihr Heil im Kommunismus, andere unterstützten sogar explizit Hitler, so der 1921 gegründete Verband Nationaldeutscher Juden e.V.

Auch nach der Regierungsübernahme der NSDAP hielten viele Westjuden an ihrer deutschnationalen Gesinnung fest und verteidigten das Dritte Reich gegen die aus England und Amerika kommende „Greuelpropaganda“ und gegen die faktische Kriegserklärung der angelsächsischen Zionisten.

Am 3. März 1933 in der CentralVereins-Zeitung, dem auflagenstarken Organ des Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V., hieß es [KER]:

„Wir 565.000 deutsche Juden legen feierliche Verwahrung ein. Eine zügellose Greuelpropaganda tobt in der Welt. Durch jedes Wort, das gegen unser Vaterland gesprochen und geschrieben wird, durch jeden Boykottaufruf, der gegen Deutschland verbreitet wird, sind wir deutschen Juden genauso tief betroffen wie jeder andere Deutsche. Nicht aus Zwang, nicht aus Furcht, sondern weil gewisse ausländische Kreise die Ehre des deutschen Namens lästern, das Land unserer Väter und Land unserer Kinder schädigen, sind wir ohne Verzug dagegen aufgestanden. Vor dem Inland und dem Ausland haben wir die Lügenmeldungen über Deutschland und die neue Regierung gebrandmarkt … Gegen diese ungeheuren Beschuldigungen legen wir 565.000 deutschen Juden vor ganz Deutschland und vor der Welt feierliche Verwahrung ein.“

Vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten kam die Stellungnahme: [MEN]

„An die Botschaft der Vereinigten Staaten. Wir erfuhren von der Propaganda in Ihrem Land über angebliche Grausamkeiten gegen die Juden in Deutschland. Deswegen erachten wir es als unsere Pflicht, nicht nur in unserem eigenen Interesse als deutsche Patrioten, sondern auch um der Wahrheit willen, uns zu diesen Vorfällen zu äußern. Mißhandlungen und Exzesse sind in der Tat vorgekommen, und es liegt uns fern, sie zu beschönigen. Doch dies ist bei jeder Revolution kaum zu vermeiden. Wir messen der Tatsache große Bedeutung bei, daß die Behörden, wo ein Eingreifen überhaupt möglich war, gegen die Übergriffe eingeschritten sind, die uns zur Kenntnis gelangt sind. In sämtlichen Fällen wurden diese Taten von unverantwortlichen Elementen begangen, die sich verbargen. Wir wissen, daß die Regierung und alle führenden Autoritäten die vorgekommenen Rechtsverletzungen aufs stärkste mißbilligen. Wir glauben aber auch, daß es jetzt an der Zeit ist, von der unverantwortlichen Hetze seitens der sogenannten jüdischen Intellektuellen im Ausland abzurücken. Diese Leute, von denen sich die meisten nie als deutsche Staatsbürger betrachtet haben, sondern sich als Vorkämpfer für jene ausgaben, die ihres eigenen Glaubens sind, haben sie in kritischer Zeit im Stich gelassen und sind aus dem Land geflüchtet. Deshalb haben sie das Recht verloren, sich zu deutschjüdischen Angelegenheiten zu äußern. Die Anschuldigungen, die sie von ihren sicheren Verstecken aus erheben, sind für Deutschland und die deutschen Juden schädlich; ihre Berichte sind maßlos übertrieben. Wir ersuchen die amerikanische Botschaft, diesen Brief unverzüglich in die USA weiterzuleiten, und wir übernehmen die volle Verantwortung für ihren Inhalt. Da wir wissen, daß nächsten Montag eine umfangreiche Propagandakampagne anlaufen soll, würden wir es schätzen, wenn die amerikanische Öffentlichkeit bis zu jenem Tag über diesen Brief informiert würde.“

Eine weitere Stimme aus dieser Zeit, 1934 schrieb der Brite G.E.O. Knight [KNI]:

„Meine persönlichen Unterredungen mit Juden waren lehrreich. Sie bestätigen nicht, was die britischen Zeitungen behaupteten. Aus Maulwurfshügeln wurden Berge gemacht und aus einer komischen Oper ein Melodrama. Die meisten der sogenannten ‘Überfälle’ wurden von übereifrigen Jugendlichen begangen und bestanden in fast jedem Fall darin, unglücksselige Menschen, die dem neuen Regime keinen besonderen Respekt entgegenbrachten, zu denunzieren. Physischer Schaden wurde nur sehr selten jemandem zugefügt, geistiger vielleicht viel. Die Gesetze über die Bewegungsfreiheit der Juden sind grundsätzlich dieselben wie die für andere Personen. Viel von dem entstandenen Ärger hat nichts mit den einheimischen deutschen Juden zu tun, von denen viele immer noch von der Regierung in verschiedenen Tätigkeitsbereichen beschäftigt werden. Es gibt ungefähr 80.000 unerwünschte Juden, die Deutschland endgültig loswerden will, und es würde sie noch so gerne nach Großbritannien oder in die Vereinigten Staaten von Amerika abschieben, wenn ein diesbezügliches Gesuch gestellt würde. Dies sind jene Juden, die seit dem Waffenstillstand [1918] in das Land eingedrungen sind und eine Situation geschaffen haben, die in Deutschland erheblichen gesellschaftlichen und politischen Schaden angerichtet hat. Unter diesen Unerwünschten gibt es Mörder, ehemalige Sträflinge, potentielle Diebe, betrügerische Bankrotteure, Mädchenhändler, Bettler aller möglichen Sorten, die jeder Beschreibung spotten, sowie politische Flüchtlinge. Viele sind aus den baltischen Staaten gekommen, andere aus Polen und eine nicht unbeträchtliche Zahl aus Rußland.“

Die Nürnberger Rassengesetze („Blutsschutzgesetz“) vom 15. September 1935 änderten die Situation der Reichsjuden erheblich. Mit diesen Gesetzen definierte die NSDAP das Judentum per Gesetz nicht länger als Religionsbekenntnis, sondern hauptsächlich über die Abstammung der Großeltern. Diese Gesetze sind ebenso komplex wie unscharf und enthalten eine Vielzahl von Fallunterscheidungen, sie sprechen von „deutschem und artverwandtem Blut“ und definieren eine Reihe von „Fremdrassen“, sie erwiesen sich teils als nicht schlüssig oder nicht praktikabel und wurden auch uneinheitlich und willkürlich gehandhabt. Sie sind insgesamt ein hilfloser Versuch, menschliche Vielfalt anhand untauglicher Kriterien in eine unpassende Werteskala zu pressen.

Von nun an galten Christen mit rein jüdischer Abstammung wieder als Juden. Die Kategorie der „Mischlinge“ 1. und 2. Grades wurde eingeführt, um alle möglichen Fälle von teilweise jüdischer Abstammung rechtlich zu bewerten, wobei die Mischlinge als Angehörige der deutsche Volksgemeinschaft galten, es sei denn, sie zählten sich zur jüdischen Religion. Mischehen wurden beschränkt. Volljuden, sowie Halbjuden mit jüdischer Konfession verloren ihre politischen Bürgerrechte und wurden von „Staatsbürgern/Reichsbürgern“ zu „Reichsangehörigen“ herabgestuft. Staatsämter waren nur noch „Deutschblütigen“ zugänglich.[2]

Dies spielte den Zionisten sehr in die Hände, hatten sie doch bereits seit Ende des 19. Jhd. eine rassisch-völkische Definition von Judentum vertreten, und alle Mischlinge und Konvertiten als „Verräter am jüdischen Volk“ verachtet. Der Berliner Zionismus profitierte von der neuen Situation, stieg doch nun der Auswanderungsdruck auf die Reichsjuden an, die in Entwicklungsland Palästina wegen ihrer hohen Qualifikation (als Finanz- und Wirtschaftsexperten, Physiker, Chemiker, Biologen, Juristen, etc.) sehr begehrt waren. Zionisten hatten sogar eine eigene Abteilung im Gestapo-Hauptquartier, die sich mit der Auswanderungsförderung befaßte [MEN]. Insgesamt gab es sechzig Ausbildungslager, die unter deutschem Patronat von den Zionisten geleitet wurden, um Kandidaten auf die Ausreise vorzubereiten.

Doch konnten die Reichsjuden trotz politischer Diskriminierung und gesellschaftlicher  Einschränkungen weiterhin ungefährdet leben. Sie wurden nicht verfolgt, entgegen vieler anderslautender Propaganda. Erst ab November 1938 und dann nochmals mit Kriegsausbruch wurde das Klima rauher. Das angelsächsische „Weltjudentum“ hatte dem Dritten Reich bereits 1933 den Krieg erklärt und alle Juden weltweit explizit zur Unterstützung dieses Krieges verpflichtet. Die angelsächsischen Zionisten fuhren eine von Jahr zu Jahr intensivere Haßpropaganda gegen die Deutschen, mit vielfach bekundetem Willen zur Vernichtung des deutschen Volkes (Zitate siehe hier). Die Greueltaten der (mehrheitlich jüdischen) Bolschewisten in Rußland sprachen sich herum. So galten begreiflicherweise allmählich alle Juden als potentielle Staatsfeinde und die Differenzierung wurde schwieriger.

Dennoch ging die Loyalität der reichsdeutschen Juden so weit, auch im Zweiten Weltkrieg in der Wehrmacht zu dienen, soweit die Rassengesetze dies zuließen, sogar als Offiziere. Dafür wurden viele Ausnahmegenehmigungen ersucht und erteilt, vor allem für „Mischlinge“ (Christen mit teilweise jüdischer Abstammung), aber auch für einige Volljuden:

(Reuters) – Bis zu 150.000 Männer jüdischer Abstammung dienten unter Adolf Hitler beim deutschen Militär, manche mit der ausdrücklichen Zustimmung des deutschen Führers. Dies sagt ein US-Historiker[3], der Hunderte ehemalige Soldaten interviewt hat. [MEN] [BMR]

Dies zeichnet ein völlig anderes Bild, als wir es von der Siegergeschichtsschreibung gewohnt sind. Bis Kriegsausbruch war jüdisches Leben in Deutschland zwar eingeschränkt, aber ungefährdet möglich! Das berichtet auch Benjamin H. Freedman, der zu dieser Zeit in Deutschland lebte (siehe hier). Die von den Zionisten angepriesene Alternative – Auswanderung nach Palästina, damals ein einfaches Agrarland – erschien so wenig attraktiv, daß nicht viele davon Gebrauch machten; nur etwa 50.000 deutsche Juden waren schließlich über das Ha’avara Transferabkommen mit einem goldenen Handschlag nach Palästina ausgewandert.

Probleme hatte das Dritte Reich also kaum mit diesen gut assimilierten Reichsjuden – abgesehen von den Kommunisten unter ihnen, die frühzeitig interniert wurden (nicht weil sie Juden, sondern weil sie Kommunisten waren) – sondern die wirklich großen Probleme entstanden erst nach Kriegsbeginn, als im Polen-Feldzug die Ostgebiete des Ansiedlungsrayon erobert wurden, und man mit den Millionen dort lebender Juden konfrontiert war, den sog. „Ostjuden“, die nicht assimiliert waren, von eher geringer Bildung, von sehr traditioneller jüdischer Kultur geprägt, oft bolschewistisch oder zionistisch indoktriniert, und somit potentielle Saboteure und Partisanen, mit denen man im Krieg sicher umgehen mußte. Als einzig praktikable Lösung erschien deren vollständige Internierung und Nutzung als Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft, und so kam es zu den großen Konzentrationslagern im Osten, die gemäß Siegergeschichtsschreibung der Vernichtung dienten, obwohl sie als als Arbeitslager eine zentrale, unverzichtbare Rolle in der Kriegswirtschaft spielten.


[1]     Es gibt darüber unterschiedliche Angaben, je nachdem, ob man Vaterjuden und Konvertiten mitzählte oder nicht, sind es zwischen 400.000 und 615.000 bei einer Gesamtbevölkerung von 80 bis 90 Millionen.

[2]     Wenn wir uns heute über die rassistische Diskriminierung durch die NSDAP empören, dürfen wir nicht ignorieren, daß der Talmud gleiche Schärfe der Diskriminierung gegenüber Nichtjuden anwendet, die er sogar zu Nichtmenschen entwertet. Beispiele: „nicht aber heißen die weltlichen [nichtjüdischen] Völker Menschen, sondern Vieh“. (Bava Metzia 114 b). „Deren Fleisch gleicht dem Fleische des Esels und ihr Samen ist Pferdesamen.“ (Jewamot 98 a) Das ist eine auch unter heutigen Rabbinern immer noch gängige Ansicht.

[3]     [BMR] Bryan Mark Rigg: Hitlers jüdische Soldaten. (2003)