Rede von Benjamin H. Freedman, Willard Hotel, Washington D.C., 1961

Johannes Freiland, 24.06.2023

Anhang 2 – zur Chasaren-Hypothese

[Anhang 1 siehe hier]

Jüdische Forscher und Historiker bemühen sich verständlicherweise sehr darum, einen gemeinsamen semitisch-judäischen Ursprung aller Juden zu belegen oder nahezulegen. Geht es doch auch darum, ein „Blutrecht“ auf die Eroberung Palästinas zu belegen und damit die völkerrechtlich aussichtslose Lage Israels moralisch zu rechtfertigen. Die Wirklichkeit ist jedoch eine andere, und den Stand der Forschung möchte ich kurz zusammenfassen – wobei ich vorausschicken muß, daß wenig Einigkeit besteht und das Thema sehr komplex ist. Zu Freedmans Zeit gab es noch keine Gen-Analyse, der wir viele neuere Erkenntnisse verdanken. Weiteres Material dazu im Hauptkapitel „Judentum“ diese Website.

  1. Die meisten Juden sind keine direkten Nachfahren der alttestamentarischen Judäer, sondern Konvertiten aus anderen Regionen und Religionen.
  2. Die heutigen Palästinenser dagegen sind direkte Nachfahren der alttestamentarischen judäischen Juden, die unter dem Druck der örtlichen Verhältnisse die jüdische Religion ablegten und zum Christentum oder Islam konvertierten, aber ihrer Heimat und ihrer einfachen bäuerlichen Lebensweise treu blieben.
  3. Den Löwenanteil der Juden der klassischen Periode – der Sepharden – bilden Konvertiten der Phönizier (nördliche Levante, hauptsächlich Libanon) und Punier (Nordafrika, hauptsächlich Karthago), beides genetisch mit den Judäern verwandte semitische Völker, die jedoch nicht der mosaischen Religion anhingen, sondern Heiden blieben (Ba’al Kult). Die Punier entstanden als phönizische Kolonien in Nordafrika. Die Phönizier waren kulturell höher entwickelt als die Judäer, auf dem Niveau der Griechen. Vor allem waren sie hervorragende Seefahrer und Händler. Nach dem Untergang Karthagos in den punischen Kriegen und der vollständigen Unterwerfung durch Rom 201 v. Chr. konvertierten viele Phönizier zur monotheistischen mosaischen Religion ihrer bäuerlichen Vettern aus Judäa, auf die sie zuvor herabgeschaut hatten. Sie waren es, die all das kaufmännische Wissen und die Bildung einbrachten, womit man Juden gewöhnlich identifiziert.

Nach der Christianisierung Roms, und in einer zweiten Welle nach der islamischen Eroberung, gaben wohl die meisten phönizischen Sepharden den jüdischen Glauben wieder auf. Andere wanderten ab nach Spanien und Portugal, um dem Druck der Islamisierung zu entgehen.

Zur Abstammung der Aschkenasim oder Ostjuden, mit > 90% die große Mehrheit aller Juden, gibt es zwei hauptsächliche Theorien.

  1. Nach der Rheinland-Hypothese stammen die meisten Ostjuden ab von einer zahlenmäßig eher kleinen Gruppe semitischer Männer, die infolge der islamischen Eroberung der Levante im 7. Jhd. nach Mitteleuropa auswanderten (damals war es noch nicht christianisiert) und dort germanische Frauen nahmen – das hebräische Wort „Ashkenas“ bezeichnet Deutschland. Die gemeinsamen Nachkommen sind eine semitisch-arische Mischung und entwickelten die Jiddische Mundart. In Mitteleuropa trafen sie auf günstige Verhältnisse und vermehrten sich extrem rasch. Sie wanderten Richtung Osten, wohl der Christianisierungswelle ausweichend, die erst allmählich Osteuropa erreichte (Litauen erst im 14. Jhd.). Da sie sich nachfolgend kaum noch mit der lokalen Bevölkerung mischten, sind sie miteinander recht eng verwandt. Eine Schwäche dieser Hypothese ist tatsächlich der Hyper-Baby-Boom, den sie voraussetzt, um aus wenigen Auswanderern eine Population von schließlich 8 Millionen Ostjuden werden zu lassen.
  2. Die Chasaren-Hypothese zu den Ostjuden, die auch Freedman vertritt, wonach fast alle Aschkenasim von konvertierten Chasaren abstammen, hat ihre Anhänger auch unter jüdischen Fachleuten. Die genetischen Forschungen zeigen weniger Einfluß von Turkvölkern, als man nach der Hypothese erwarten müßte, allerdings weist Eran Elhaik [EIL] darauf hin, daß das Khasarenreich ein ausgesprochener Vielvölkerstaat aus Slaven, Skythen, Hunnen, Bulgaren, Persern und Türken war. Die Ergebnisse und der zugesprochene Anteil an der Gesamtheit schwanken je nach Forscher und Studiengruppe, manche finden durchaus einen hohen Anteil von genetischem Material aus dem Kaukasus, so auch Elhaik.

Diese deutsch-semitischen Juden und Chasaren bilden also den Grundstock der Aschkenasim. Über die Proportionen sind die Forscher uneins. Daß jedoch die Aschkenasim keine Nachfahren von Judäern sind, scheint gesichert. Eine Ausnahme bilden die „Cohanim“, die jüdische Priesterkaste.

In der Science News vom 03.10.1998 erschien ein Artikel[1] über DNA-Forschung an den Cohanim, Titel „Das Priester Chromosom“. Alle Cohen führen ihre väterliche Blutlinie auf Moses‘ Bruder Aaron zurück, den ersten gesalbten Cohen. Die Forscher Karl Skorecki (selbst ein Cohen) und David B. Goldstein konnten zeigen, daß alle untersuchten Cohanim, egal welcher Abstammung (sephardisch oder aschkenasisch), spezifische genetische Marker aufwiesen, die in der übrigen Bevölkerung (Jude oder nicht) weit weniger bis gar nicht zu finden sind. Man nahm das als Beleg dafür, daß sie tatsächlich einen gemeinsamen väterlichen Vorfahren haben. Man muß dazu wissen, daß einem Cohen jegliche Mischehe, insbesondere auch mit einer konvertierten Jüdin oder einer Witwe, strikt verboten ist. Somit ist es durchaus denkbar, daß sich die Blutlinien der Cohanim von den Talmudschulen Babyloniens durch das Khasarenreich, wo sie als Lehrer wirkten, bis nach Europa erhalten haben.

Rabbi Yaakov Kleimann zitiert diesen Artikel in seinem Artikel „The Cohanim – DNA Connection“[2] und fügt dann noch an, jedoch ohne dafür eine Quelle zu bringen:

„Breitere genetische Studien verschiedener heutiger jüdischer Gemeinschaften zeigen einen bemerkenswerten genetischen Zusammenhalt. Juden aus dem Iran, dem Irak, dem Jemen, Nordafrika und europäische Aschkenasim finden sich alle zusammen mit anderen semitischen Gruppen, die ihren Ursprung im Nahen Osten haben. Für alle untersuchten jüdischen Hauptgruppen läßt sich ein gemeinsamer geographischer Ursprung feststellen. Diese genetische Forschung hat die Geschichte der Chasaren eindeutig widerlegt – Chasaren: ein türkisch-asiatisches Reich aus der Zeit vor dem 10. Jahrhundert, das angeblich massenhaft zum Judentum konvertierte. Die Forscher verglichen die DNA-Signatur der aschkenasischen Juden mit der von türkischstämmigen Menschen und fanden keine Übereinstimmung. …Die Ergebnisse der DNA-Tests stützen die Hypothese, daß die väterlichen Genpools der jüdischen Gemeinschaften aus Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten von einer gemeinsamen Vorfahrenpopulation aus dem Nahen Osten abstammen, und legen nahe, daß die meisten jüdischen Gemeinschaften während und nach der Diaspora relativ isoliert von benachbarten nichtjüdischen Gemeinschaften geblieben sind.“

Allerdings dürfte die „gemeinsame Vorfahrenpopulation aus dem Nahen Osten“ eben nicht aus Judäern bestehen, sondern größtenteils aus Phöniziern und Puniern. Und andere Genetiker wie Eran Elhaik [EIL] stützen mit ihren Ergebnissen wiederum die Chasaren-Hypothese, die eben nicht auf „türkischstämmige Menschen“ begrenzt ist.

Manche Aschkenasim sind ausnehmend stolz auf ihre „wilden“ chasarischen Vorfahren und stellen diese Abstammung mitnichten in Frage! Das Projekt „Wir Juden“ von Leo Sucharewicz, Verein Demokratie und Information e.V. bringt hier einen geschichtlichen Abriß[3]. Das Projekt ist von der BRD-Regierung gefördert.

„Vom 8. bis 11. Jahrhundert waren wir Juden wilde Reiter, genannt die Chasaren. Zwischen  Krim und Kaspischem Meer beherrschten wir die ganze Region. In etwa auf dem Gebiet des heutigen Georgien. Für Byzanz waren die Chasaren wichtige Bundesgenossen. In mehreren Kriegen besiegten sie die anstürmenden Armeen des arabischen Kalifats. Unter Historikern ist ungeklärt, ob nur der Khagan, die Fürsten und die Oberschicht Juden waren oder mehr oder weniger weite Teile des Volkes. Zahlreiche Quellen belegen, daß die Elite hebräisch sprach, den Sabbat heiligte und die jüdischen Speisegesetzte einhielt.
Im 10. Jahrhundert wurde das Khasarenreich von den Kiewer Rus erobert und zerstört.“

Berthold Seewald faßte 2017 für DIE WELT hier[4] die Arbeiten von Peter Frankopan[5] und Arthur Koestler[6] zusammen (Auszug):

„Im Jahr 860 kam es in Itil an der unteren Wolga zu einem bemerkenswerten Schlagabtausch. Je eine hochrangig besetzte Delegation aus dem Byzantinischen Reich und aus dem Abbasidenkalifat von Bagdad rangen um die Frage, welche Religion die bessere sei, Christentum oder Islam. Als Dritte im Bunde meldeten sich jüdische Schriftgelehrte zu Wort. Aufgefordert zum Disput hatte sie kein Geringerer als der Khagan der Chasaren, eines Steppenvolkes, das innerhalb weniger Generationen ein riesiges Reich erobert hatte, das von der Ukraine im Westen bis in den Norden Irans reichte. Entsprechend wertvoll sollte der Lohn sein: Dem siegreichen Gott würden sich die Chasaren unterwerfen und seine Religion annehmen. Die Christen unter Führung des späteren Slawenapostels Kyrill sollen erklärt haben, daß der Islam auf jeden Fall schlimmer sei als das Judentum. Mit gegenteiliger Stoßrichtung meinten die Muslime dies auch. Daraus zog der Khagan seinen eigenen Schluß: Zweimal habe man zugegeben, daß die Religion der Israeliten besser sei. ‚Und deshalb entscheide ich mich im Vertrauen auf die Gnade Gottes und die Macht des Allmächtigen für die Religion Israels.‘
So überlieferte ein Gelehrter hundert Jahre später eine Entscheidung, die vorher noch kein Volk außer den Juden getroffen hatte. Das Gros der Chasaren, auf jeden Fall ihre Führungsschicht, nahm den mosaischen Glauben an. Ob sich die Episode wirklich so zugetragen hat, ist eine offene Frage, auf jeden Fall gibt sie der englische Historiker Peter Frankopan in aller Ausführlichkeit zum Besten.“

Die Chasaren-Hypothese ist also nicht unumstritten, wird aber auch in jüdischen Kreisen durchaus anerkannt, je nach Motivationslage. Mag nun jeder selbst seine Schlüsse ziehen.

Zum Thema jüdische Fraktionen und deren unterschiedliche Motive, siehe Anhang 3.


[1]     Quelle: https://www.sciencenews.org/archive/priests-chromosome

[2]     Quelle: https://aish.com/48936742/

[3]     Quelle: https://www.wir-juden.com/ethnien-chasaren

[4]     Quelle: https://www.welt.de/geschichte/article161864828/Dieses-juedische-Imperium-reichte-weit-nach-Europa.html

[5]     Peter Frankopan: Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. [FRA]
Frankopan (*1971) ist Professor für Weltgeschichte in Oxford, Senior Research Fellow und zugleich Direktor des Oxford Centre for Byzantine Research

[6]     Arthur Koestler: Der dreizehnte Stamm. Das Reich der Chasaren und sein Erbe. Sachbuch 1976 [KOE]
Köstler (*1905 †1983) war Journalist. Kind eines jüdischen Industriellen in Ungarn, wurde er 1922 in Wien Zionist, in Berlin 1930 Mitglied der KPD, die er dann 1938 unter dem Eindruck Stalins jedoch verließ. Lebte ab 1940 in England. Befreundet mit George Orwell und Simone de Beauvoir.