Ursprünge der Balfour Declaration – die Memoiren des James A. Malcolm
Johannes Freiland, 23.07.2023
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Einführung
Die Balfour Declaration vom 2. November 1917 ist das wohl folgenschwerste, kürzeste und seltsamste außenpolitische Vertragsdokument überhaupt. Dennoch ist sie der Öffentlichkeit kaum bekannt, ihre Vorgeschichte und Hintergründe erst recht nicht. Jedoch kann man ohne dieses Wissen nicht recht begreifen:
- Den Kriegseintritt der USA in den 1. Weltkrieg
- Das Versailler Diktat mit der Vernichtung des Deutschen Reiches
- Den Zerfall Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches
- Die zunehmende Judenfeindlichkeit ab 1919 in der Weimarer Republik, in der Türkei und im arabischen Raum
- Den Aufstieg des Zionismus zur politischen Weltmacht, seine Übernahme Palästinas und die spätere Gründung Israels
- Die heute allgemein akzeptierte Definition des Judentums als Volk, statt als Religionsbekenntnis
- Den andauernde Bürgerkrieg zwischen Palästinensern und jüdischen Israelis
- Den unlösbare Nahost-Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten
Das sind Themen, welche das Schicksal Deutschlands und die Weltpolitik prägen bis in die Gegenwart. Für Bürger Deutschlands und Österreichs bringt das Verständnis der Hintergründe Aha-Erlebnisse mit sich, denn sie kommen in der offiziellen Geschichtsschreibung der Siegermächte nicht vor (somit auch nicht in Schulbüchern, in Wikipedia, den Massenmedien).
Eine der wenigen Primärquellen zur Vorgeschichte der Balfour Declaration ist der persönliche Bericht von James A. Malcolm. Eine deutsche Übersetzung lag noch nicht vor.
James A. Malcolm und die Balfour Declaration
James Aratoon Malcolm Bagratian (*1868 Bushehr/Persien †1952 London) war Finanzmakler, Waffenhändler, Journalist und Diplomat mit persisch-armenischer Abstammung und exzellenten Verbindungen zu jüdischen Großhändlern und Bankiers im Britischen Imperium. Sein Vater Aratoon Malcolm war Schatzmeister des Schah von Persien. Der Familienname ist eine Anglisierung des armenischen „Malkom“. Er wurde 1906 britischer Staatsbürger. Für seine Verdienste um Großbritannien wurde er 1948 mit dem Ordensrang „Officer of the British Empire“ (OBE) geehrt. Er war Freimaurer in der United Grand Lodge of England.
Ab Spätherbst 1916 war Malcolm als Initiator und Unterhändler beteiligt an einer geheimen mündlichen Übereinkunft zwischen dem britischen Kriegskabinett und der Zionistischen Weltorganisation, wonach die Zionisten zusicherten, die bis dahin neutralen Vereinigten Staaten von Amerika als Verbündeten Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg hineinzuziehen; Großbritannien sich im Gegenzug dazu verpflichtete, den Zionisten den Zugriff auf Palästina als jüdische Heimstätte zu sichern. Die USA traten tatsächlich im April 1917 in den Krieg ein, was das Kriegsgeschick der Alliierten wendete.
Da die Zionisten ihren Teil der Übereinkunft erfüllt hatten, bestanden sie auf einer schriftlichen und verbindlichen Erklärung Großbritanniens, nun seinerseits Palästina für die Zionisten sichern zu wollen. Im November 1917 wurde diese Zusicherung endgültig schriftlich abgefasst – in verschleierter Diplomatensprache – und von Außenminister Lord Balfour[1] unterzeichnet zur Balfour Declaration und ist eines der Gründungsdokumente des Staates Israel (siehe Anhang). Der internationalen Öffentlichkeit bekannt wurde die Balfour Declaration erstmals 1919 bei den Verhandlungen der Siegermächte in Paris und Versailles, als die jüdisch-zionistische Delegation damit Anspruch auf Palästina als Kriegsbeute erhob. Und die Deutschen wussten nun, wem sie ihre katastrophale Lage zu verdanken hatten.
Das vorliegende Dokument stammt von Malcolm selbst, der 1944 in London aus seiner Erinnerung den Hergang aufschrieb. Er erläutert zunächst, warum er als Nichtjude sich für die Sache des Zionismus so sehr einsetzte, um dann Schritt für Schritt den Ablauf der Verhandlungen, die Umsetzung der Übereinkunft und die Entstehung der Balfour Declaration zu beschreiben, unter besonderer Würdigung der Verdienste von Dr. Chaim Weizmann[2], dem späteren ersten Staatspräsidenten Israels.
Malcolm schrieb seine Memoiren für britische bzw. jüdische Leser, die den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit bewusst miterlebt hatten, denen die genannten Prominenten und Ereignisse also ein Begriff waren. Alle wichtigen angelsächsischen politischen und jüdischen Führungspersönlichkeiten der damaligen Zeit waren beteiligt und werden genannt, somit lesen sich diese Memoiren wie ein Who-Is-Who der Kriegszeit. Deutschen der 2020er werden die Namen jedoch wenig sagen. Daher bringe ich in Fußnoten und [Klammern] weitere Angaben dazu.
Militärische Lage 1916
Kurz zur militärischen Lage im Herbst 1916, wo Malcolms Bericht einsetzt. Zu dieser Zeit hatten die Mittelmächte (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich) den Krieg gegen die Alliierten (Frankreich, Großbritannien und Commonwealth, Russisches Reich) faktisch gewonnen. Noch kein feindlicher Soldat hatte deutschen Boden betreten. Zwar hatte die britische Marine seit Kriegsbeginn eine Seeblockade Deutschlands unternommen und schwächte damit Deutschlands Versorgung, jedoch hatte die deutschen U-Boote sich ab Februar 1915 als höchst wirksames Gegenmittel erwiesen[3], konnte die britische Blockade teilweise brechen und ihrerseits viele britische Versorgungskonvois versenken, woduch England allmählich Munition und Nahrung ausging, außerdem hatte England seine Kreditlinien bei den amerikanischen Großbanken ausgeschöpft und kam in finanzielle Schwierigkeiten. An der Westfront in Frankreich war in einem ungeheuer verlustreichen Stellungkrieg ein militärisches Patt entstanden. An der Ostfront begann das Zarenreich zu bröckeln und die russischen Soldaten desertierten. In der Levante[4] hatten sich die Alliierten nicht durchsetzen können, der von England finanzierte arabische Aufstand gegen das Osmanische Reich war zu schwach.
Aus dieser Situation hatten die Mittelmächte den Alliierten mehrfach Friedensangebote unterbreitet. Schon Anfang Oktober 1916 boten Deutschland über diplomatische Kanäle den Alliierten an[5], die deutschen Truppen zurückzuziehen und die Kampfhandlungen zu beenden, mit „Status Quo Ante Bellum“ also Rückkehr zum Zustand vor dem Krieg. In London zog man dieses Angebot ernsthaft in Erwägung[FRE1], denn die Lage war für Großbritannien schlecht, wie auch Malcolm bestätigt.
Am 12. Dezember 1916 machte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg den Alliierten erneut ein Friedensangebot[6], diesmal hochoffiziell. Damit hätte der 1. Weltkrieg beendet sein können. Nun jedoch lehnten die Alliierten strikt ab. Die offiziellen Begründungen kann man Wikipedia entnehmen. Inoffiziell jedoch zeigt der Bericht Malcolms, dass Großbritannien bereits ab Ende Oktober fest davon ausging, es würde gelingen, die USA kurzfristig in den Krieg zu ziehen, und man sodann militärisch gewinnen könne!
Dies war bislang am Widerstand des amerikanischen Judentums gescheitert, in dessen Besitz oder Einfluss die meisten Großbanken und Massenmedien waren. Ein großer Teil der amerikanischen Juden war vor der Verfolgung im russischen Zarenreich nach Amerika geflüchtet, andere hatten deutsche Wurzeln, daher sympathisierten beide Fraktionen mit Deutschland, gerade auch in seinem Kampf gegen das Zarenreich. Der amerikanische Präsident Wilson hatte sich 1916 selbst als Friedensvermittler betätigt, seine Wiederwahl soeben mit dem pazifistischen Wahlkampfmotto gewonnen „He kept us out of war“. Wie und warum es dennoch mit Hilfe der Zionisten rasch gelang, die USA in den Krieg zu ziehen, ist Gegenstand des Berichts.
Staatlichkeit und Nationalität von Palästina
Ein pikantes Detail der Übereinkunft zwischen Großbritannien und den Zionisten war, dass Palästina bis dato gar nicht zum britischen Einflussbereich gehörte, sondern zum Osmanischen Reich (welches mit dem Deutschen Reich verbündet war). Man versprach also den Zionisten etwas, das man noch gar nicht besaß! Mehr noch, man hatte es zuvor insgeheim sogar schon anderen versprochen, sogar zweifach! Frei nach Arthur Köstler kann man sagen:
Eine Nation [Großbritannien] verspricht einer zweiten Nation [Zionistische Juden] feierlich das Land einer dritten Nation [Palästina/Araber], welches zu der Zeit noch Teil einer vierten Nation war [Osmanisches Reich/Türkei].
Faktisch verpflichtete Großbritannien sich also zunächst zum Bruch bestehender Abkommen (mit Frankreich und Arabien) und zur militärischen Eroberung und Besetzung Palästinas. Letzteres gelang erst durch unmittelbare tatkräftige Schützenhilfe der Zionisten selbst: mithilfe des jüdischen Spionagenetzwerks NILI in Palästina, mithilfe des jüdischen Freiwilligenregiments der britischen Armee, im August 1917 gegründet und in den Palästina-Sinai-Feldzug von General Allenby eingegliedert (in diesem Regiment dienten die ersten drei Premierminister des späteren Israel), sowie mithilfe eines Armenischen Freiwilligenregiments, für dessen Bereitstellung Malcolm als Bevollmächtigter der armenischen Regierung selbst sorgte. All dies reißt Malcolm in seinen Memoiren an.
Am 30. Oktober 1918 wurde dieser Feldzug im Waffenstillstand von Moudros für die Alliierten erfolgreich beendet, das Osmanische Reich war geschlagen. Erst 1920 wurden die britischen „Mandatsgebiete“ Palästina, Syrien und Libanon eingerichtet, vom kurz zuvor unter Druck der Siegermächte gegründeten Völkerbund. Die britische Verwaltung Palästinas begann offiziell im Juli 1921, und erst dadurch waren formell die Voraussetzungen für die zionistische Masseneinwanderung geschaffen.
[1] Arthur James Balfour, 1. Earl of Balfour (*1848 †1930), britischer Premierminister 1902-05, Oppositionsführer der Konservativen bis 1911, Erster Lord der Admiralität 1915-16 als Nachfolger Churchills, Außenminister ab 1917, Höchstgrad-Freimaurer
[2] Chaim Weizmann (*1874 in Pinsk/Belarus, †1952 Israel) war ein bedeutender Chemiker, studierte in Darmstadt und Berlin, wirkte ab 1897 in der Schweiz, ab 1903 in England. Wurde 1910 britischer Staatsbürger und Sprengstoffentwickler. 1919 als Leiter der zionistischen Delegation in Versailles, ab 1921 Präsident der Zionistischen Weltorganisation, ab 1949 der erste Staatspräsident Israels
[3] https://www.history.com/news/u-boats-world-war-i-germany
[4] Levante bedeutet „Morgenland“ und umfasst das Gebiet des heutigen Palästina/Israel/Gaza, Syrien, Jordanien, Libanon, Teile des Irak, Teile Ägyptens, Teile der Türkei. Die Levante war 1516-1918 Teil des Osmanischen Reiches, also über vier Jahrhunderte.
[5] Quelle: Brisbane Courier / New York Tribune 05.10.1916
[6] Quellen:
https://www.theeuropean.de/alexander-graf/11657-vor-100-jahren-friedensangebot-im-dezember-1916
https://www.welt.de/geschichte/article160151081/Als-das-Deutsche-Reich-der-Welt-den-Frieden-anbot.html