Die Balfour Declaration, ihre Hintergründe und Folgen für Deutschland und Palästina

Johannes Freiland, 30.07.2023

3. Einfluß auf die Judenfrage

Die Kenntnis dieser Vorgänge ist entscheidend zum Verständnis des sogenannten Interbellums, der Zeit zwischen den Weltkriegen, weil sich infolgedessen nicht nur die Lebensverhältnisse im Deutschen Reich drastisch zum Schlechteren veränderten, sondern begreiflicherweise auch das Verhältnis des deutschen Volkes zu den unter ihm lebenden Juden, die damals etwa ein halbes Prozent der Bevölkerung ausmachten, aber in Positionen von Macht und Einfluss (Banken, Wirtschaft, Juristen, Medien, Kultur) weit überrepräsentiert waren.

Die Haskala – jüdisches Bürgertum in Preußen

Juden genossen gerade in deutschen Landen große bürgerliche und völlige religiöse Freiheiten. Die „Haskala“ Bewegung der jüdischen Aufklärung nahm ihren Anfang im preußischen Berlin und Königsberg des späten 18. Jahrhunderts. Die Haskala verfolgte das Ziel, die Juden aus ihrer strikten Außenseiter-Rolle herauszuholen – einem über Jahrhunderte von den orthodox-religiösen Lebensvorschriften der Tora und vom Talmud-Studium geprägten Ghetto-Leben religiös gebotener und somit teils selbstgewählter Absonderung[1], einschließlich der Sondersprache Jiddisch und der besonderen Tracht – und trachtete, sie in die europäischen Völker, Gesellschaften und Sprachen zu integrieren, bis hin zur äußeren Verschmelzung (Assimilation), bei gleichzeitiger Besinnung auf die spirituellen Ursprünge. Als Initialzündung gilt die deutsche Übersetzung der Thora durch Moses Mendelssohn (*1729 Dessau †1786 Berlin), der Lessings Vorbild für die Figur Nathan der Weise wurde. Von Mendselssohn stammt auch die Formel „Sei ein Jude zuhause und ein Goj auf der Straße“, was allerdings, wie Gilad Atzmon [ATZ] anmerkt, eine gewisse Schizophrenie im Selbstbild bedingt, zerrissen zwischen einer häuslichen jüdischen Identität einerseits und einem öffentlichen Erscheinungsbild und Verhalten nach Gepflogenheit des (christlichen) Landes andererseits.

Die Bewegung führte zum „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“, sog. Emanzipationsedikt von 1812, welches den Juden in Preußen auf Antrag volle staatsbürgerliche Rechte zusprach[2]. Das Edikt gewährte ihnen weitgehende Niederlassungs-, Handels- und Gewerbefreiheit. Juden konnten sich erstmals fast im gesamten preußischen Gebiet frei bewegen, beinahe jedes Gewerbe frei wählen und ohne obrigkeitliche Kontrolle Grundbesitz erwerben. Schließlich hob das Emanzipationsgesetz des Norddeutschen Bundes 1869 alle noch bestehenden Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte, die aus der Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse hergeleitet wurden, auf. Damit war der Weg zu politischer und wirtschaftlicher Macht frei, zu Lehrämtern und Staatsämtern. Diese Freiheit zur Macht wurde weidlich genutzt und war den Christen durchaus ein Anlass zu Neid und Missgunst, wurden die Juden doch aufgrund ihres Geschickes als Händler und Geschäftsleute, aufgrund ihrer internationalen Netzwerke und ihrer intellektuell-rhetorischen Schulung (durch das anspruchsvolle Talmud-Studium) rasch und überproportional zu führenden Persönlichkeiten in Finanzwirtschaft, Industrie, Juristerei, Zeitungen und Verlagswesen, Kulturbetrieb und Politik. Auch ihr wachsender Einfluss auf die deutsche Kultur wurde kritisch gesehen, es gab organisierten Widerstand. Von manchen Juden wurde dies zu einer allgemeinen und grundsätzlichen Judenfeindlichkeit hochgespielt, was andere Juden wiederum entschieden verneinten.

Die Anfänge des Zionismus

Neben einer Mehrheit der Juden, die diese Emanzipation und Assimilation begrüßten, gabe es eine politisierte jüdische Minderheit, die ihr Judentum eher als Ethnie und eigenständiges auserwähltes Volk begriffen denn als Religionsbekenntnis. Diese fürchteten, durch die Assimilation ihre Identität zu verlieren, und sie sahen die gelegentlich aufflammende Ablehnung der Juden als Beweis für eine grundsätzliche Unvereinbarkeit mit den Völkern (den Goijim, also Heiden). Zu ihnen gehörte auch Theodor Herzl[3], der mit seiner deutschen Schrift von 1896 „Der Judenstaat“ [HER] als eigentlicher Begründer des Zionismus[4] gilt. Zwei Beispiele seiner Kerngedanken [Hervorhebung von mir]:

„In den Bevölkerungen wächst der Antisemitismus täglich, stündlich und muß weiter wachsen, weil die Ursachen fortbestehen und nicht behoben werden können. Die causa remota ist der im Mittelalter eingetretene Verlust unserer Assimilierbarkeit, die causa proxima die Überproduktion an mittleren Intelligenzen, die keinen Abfluss nach unten haben und keinen Aufstieg – nämlich keinen gesunden Abfluss und keinen gesunden Aufstieg. Wir werden nach unten hin zu Umstürzlern proletarisiert, bilden die Unteroffiziere aller revolutionären Parteien und gleichzeitig wächst nach oben unsere furchtbare Geldmacht.

(Theodor Herzl: Der Judenstaat)

„Ich begreife den Antisemitismus. Wir Juden haben uns, wenn auch nicht durch unsere Schuld, als Fremdkörper inmitten verschiedener Nationen erhalten. Wir haben im Ghetto eine Anzahl gesellschaftswidriger Eigenschaften angenommen. Unser Charakter ist durch den Druck verdorben, und das muß durch einen anderen Druck wiederhergestellt werden. Tatsächlich ist der Antisemitismus die Folge der Judenemanzipation.“

(Theodor Herzls Tagebücher 1895–1904)

Wie Herzl dachte zur damaligen Zeit nur eine Minderheit, sie galten unter den emanzipierten Juden Mitteleuropas als „osteuropäische Fanatiker“. Aussprüche wie die oben und weiter unten zitierten haben jedoch dazu beigetragen, die Furcht der Christen vor jüdischer Macht zu befeuern und liefern zudem die perfekte Begründung einer ablehnenden Haltung. Zumal Juden in den revolutionären Parteien eben keineswegs nur „Unteroffizieren“ waren, sondern Anführer und Vordenker wie Karl Marx, Rosa Luxenburg, Karl Liebknecht, Leo Trotzki, Wladimir Lenin.

Auch Herzls Ansicht, die Juden hätten keine Möglichkeit zum „gesunden Aufstieg“, ist objektiv unhaltbar, jedenfalls soweit es die sog. „Westjuden“ in Frankreich, England, Holland, Österreich, Preußen und später das Deutsche Reich betraf. Deutsche Juden waren Inhaber des größten Industriebetriebes[5] und der größten Reederei[6], sie waren Adelige, sie waren Politiker, sie waren die Bankiers des Königshauses.

In den Gebieten am Westrand des Zarenreiches, wohin im 19. Jahrhundert die meisten sog. „Ostjuden“ aus Rußland verdrängt worden waren (mit Zentren in Odessa, Wilna/Vilnius, Warschau, Prag, Lemberg/Lviv), war die Situation allerdings weniger günstig. Die dort lebenden Juden neigten weniger zur Assimilierung, sie hielten mehr an der Ghettoisierung, der Lebensform des Schtetl, traditionellen Lebensvorschriften und am Jiddisch fest.

Diese zwiespältige Gemengelage ermöglichte und beförderte die Bildung und den Aufstieg der zionistischen Bewegung, die zwar den emanzipatorischen Impuls der Haskala weiterführte, in ihren Zielen jedoch eine Gegenbewegung darstellt: nämlich, die Assimilation zu verhindern!

Erstrebte die Haskala die bestmögliche Integration und vollgültige Beheimatung in den bestehenden Nationen, so daß Judentum ‚nur‘ eine religiöse Konfession unter anderen Konfessionen darstellen würde, aufgrund der umfassenden Lebensregeln allerdings wohl stets eine Subkultur, so hatte der Zionismus das gegenläufige Ziel größter Absonderung: eigene Nation, eigene Staatlichkeit. Die Zionisten verstanden das Judentum primär völkisch, als Rasse ohne Heimat, Volk ohne Nation, schutzlose und heimatlose Vertriebene, es sei denn, sie fänden eine jüdische „nationale Heimstätte“ und gründeten einen Judenstaat, bevorzugt in Palästina. Statt sich zu assimilieren „wird der Jude somit Mitglied eines distinkten Stammes mit politischen und globalen Interessen.“[7] In Herzls Zitaten tritt bereits ein Begriff hervor, der die zionistische Bewegung prägt: das Selbstverständnis als „Semiten“, also Abkömmlinge einer ursprünglich in der Levante beheimateten Ethnie (oder Rasse, wie man damals sagte), von dort in die Diaspora vertrieben, und die dementsprechende Deklaration von Judenfeindlichkeit als „antisemitisch“. Diese These ist, gelinde gesagt, umstritten. Für den größten Teil der heute lebenden Juden – die Aschkenasim – trifft das nicht zu, sie stammen bis auf Ausnahmen nicht aus Judäa/Palästina[8], sondern ihre Vorfahren waren zum Judentum konvertierte Asiaten, Phönizier/Punier und Germanen (das hebräische Wort „Ashkenas“ bezeichnet Deutschland).

Die Positionierung der Zionisten zu den Kriegsparteien

Die Zionistische Weltorganisation (ZWO), 1882 in Odessa initiiert und ab dem Kongreß 1897 in Basel umfangreicher tätig, hatte bis 1921 ihren Hauptsitz in Berlin[9]. Die meisten einflußreichen Zionisten und jüdischen Intellektuellen hatten in deutschen Landen gelebt, studiert, gewirkt und waren deutschsprachig. Der Vorstand der ZWO bestand zur Hälfte aus Deutschen. Man erwartete also von ihnen in der Kriegsfrage, wenn schon keine Loyalität zu Deutschland und Österreich, so doch zumindest Neutralität. Umso mehr wirkte in den Augen der Deutschen das Zweckbündnis der Zionisten mit dem Kriegsgegner Großbritannien als unverzeihlicher Verrat mit der Folge von Demütigung, Plünderung, Gebietsverlust, wirtschaftlichem Ruin und Fremdbestimmung für das Deutsche Reich. Und dieser Verrat fiel ab 1919 auf das Ansehen aller deutschen Juden zurück. Man legte die Katastrophe des Versailler Diktates leider „den Juden“ zu Last, nicht nur den Zionisten und Kriegsgewinnlern unter ihnen – was tragisch, aber nachvollziehbar ist, hatten doch die Zionisten stets vorgegeben, für „die Juden“ zu sprechen. Den Zionisten damals war durchaus bewußt, was sie ihren deutschen Religionsgenossen damit angetan hatten:

 „Die Tatsache, daß durch jüdische Beihilfe die USA auf der Seite der Alliierten in den Krieg gezogen wurden, hat sich seither in den Köpfen der Deutschen – vor allem der Nazis – eingebrannt und in nicht geringem Maße dazu beigetragen, daß der Antisemitismus im nationalsozialistischen Programm eine herausragende Stellung einnahm.“

(Samuel Landmann, Generalsekretär der ZWO 1917-22) [LAN1] zitiert in [FRE2]

„Das neue Deutschland hält an der völligen Ausrottung des Juden fest, weil es die Juden waren, die die Vereinigten Staaten zum Eintritt in den Weltkrieg anstifteten und damit die Niederlage Deutschlands herbeiführten, und die später die Inflation[10] in Deutschland verursachten, erklärte Richard Kunze, ein führender Vertreter des Nationalsozialismus, gestern auf einer Massenveranstaltung in Magdeburg.“

(Jewish Daily Bulletin, New York City, 30.10.1934) zitiert in [FRE2]

Das Deutsche Reich hat auf schlimme Weise erfahren müssen, wie ernst es den Zionisten damit war, die Loyalität zu den Völkern und Nationen kategorisch abzulehnen:

„Es gibt keine englischen, französischen, deutschen oder amerikanische Juden, sondern nur Juden, welche in England, Frankreich, Deutschland oder Amerika leben.“

 (Chaim Weizmann, 1897 auf dem 1. Weltkongreß der Zionistischen Weltorganisation in Basel)

„Die Juden weisen die Idee einer Fusion mit anderen Nationalisten energisch zurück, und halten sich an ihrer historischen Hoffnung auf ein Weltimperium fest.“

(Max Mandelstam, 1898 auf dem 2. Weltkongreß der Zionistischen Weltorganisation in Basel)

Herzl und seine Freund Max Nordau[11] hatten früh erkannt, daß die Zionisten, um Palästina für sich zu erwerben, auf einen großen Krieg der europäischen Nationen würden warten müssen, wo sie dem voraussichtlichen Sieger ihre Unterstützung zusagen und im Gegenzug Palästina verlangen könnten. So sagte Herzl 1903:

„Es kann sein, daß die Türkei sich verweigert oder nicht in der Lage ist, uns zu begreifen. Das wird uns nicht entmutigen. Wir werden nach anderen Mitteln suchen, um unser Ziel zu erreichen. Die Orientfrage ist jetzt die Frage des Tages. Früher oder später wird sie zu einem Konflikt zwischen den Nationen führen. Ein europäischer Krieg steht unmittelbar bevor. Der große europäische Krieg muß kommen. Mit meiner Uhr in der Hand erwarte ich diesen schrecklichen Augenblick. Nachdem der große europäische Krieg beendet ist, wird die Friedenskonferenz zusammentreten. Wir müssen für diese Zeit bereit sein. Wir werden mit Sicherheit zu dieser großen Konferenz der Nationen gerufen werden und wir müssen ihnen die dringliche Notwendigkeit einer zionistischen Lösung der Judenfrage beweisen. Wir müssen ihnen beweisen, daß das Problem des Orients und Palästinas eins ist mit dem Problem der Juden – beide müssen zusammen gelöst werden. Wir müssen ihnen beweisen, daß das jüdische Problem ein Weltproblem ist und daß ein Weltproblem von der Welt gelöst werden muß. Und die Lösung muß die Rückgabe von Palästina an das jüdische Volk sein.“

(Herzl, auf dem 6. Zionistischen Kongreß in Basel, August 1903) [12]

Zwei gegnerische Parteien in diesem kommenden europäischen Konflikt waren bereits 1903 unschwer zu definieren: England und Deutschland. Denn das Deutsche Reich hatte seit seiner Gründung 1871 einen ungeheuren Aufstieg zur Weltmacht hingelegt und forderte Englands globale Hegemonie in Welthandel und Politik heraus, ob es wollte oder nicht. Man durfte auch getrost davon ausgehen, daß sich das Kaiserreich Österreich mit dem Deutschen Reich verbünden würde.

Damals war nicht unbedingt absehbar, wer der Sieger in einem solchen Krieg sein würde, auch wenn Herzl selbst (der ja schon 1904 starb) eine Präferenz für England als damaligem Haupt-Machtzentrum geäußert hatte. Das würde von der Positionierung der anderen europäischen Großmächte abhängen: Frankreich, Rußland, das Osmanische Reich. Darauf konnte man Einfluß nehmen. Und man redete und sondierte mit allen. Die Vereinigten Staaten von Amerika standen noch nicht im selben Maße auf der großen Bühne.

Herzl hatte persönlich mit dem deutschen Kaiser, dem Papst, mit King Edward VII, dem osmanischen Sultan und dem russischen Zaren über Palästina und andere Optionen und Bedingungen jüdischer Ansiedlung gesprochen, doch ohne befriedigenden Erfolg [JOH]. Der Kaiser sympathisierte mit dem Zionismus und hatte Herzl unterstützt, so auch das Bürogebäude für die Weltzentrale der ZWO in Berlin beschafft und das Treffen mit dem Sultan arrangiert [FRE2]. England hatte konkrete Siedlungsgebiete für Zionisten in den vom Britischen Imperium kontrollierten Ländern angeboten: El-Arish in Sinai, sowie „Uganda“ (das betreffende Gebiet lag eigentlich in Kenia). Der Sultan hatte sich festgelegt, daß Palästina den Zionisten nicht zur Verfügung stünde, solange das Osmanische Reich besteht.

Auf demselben Kongreß 1903 sprach Max Nordau folgende prophetische Worte, die über Herzls Einschätzung hinausgehen und sich mehr festlegen:

„Nun hat diese große fortschrittliche Weltmacht, England […] als Zeichen ihrer Sympathie mit unserem armen Volk, durch den Zionistenkongreß die autonome Kolonie Uganda der jüdischen Nation angeboten. Natürlich liegt Uganda in Afrika, und Afrika ist nicht Zion und wird niemals Zion sein, um Herzls eigene Worte zu zitieren. Aber Herzl weiß sehr wohl, daß nichts für die Sache des Zionismus so wertvoll ist wie freundschaftliche politische Beziehungen zu einer Großmacht wie England, und zwar umso wertvoller, als Englands Hauptinteresse sich auf den Orient konzentriert. Nirgends ist der Präzedenzfall so wirkmächtig wie in England [englisches Recht, das Common Law, beruht auf Urteilen in Präzedenzfällen], und so ist es von größter Bedeutung, eine Kolonie aus den Händen Englands zu übernehmen und damit einen Präzedenzfall zu unseren Gunsten zu schaffen. Früher oder später wird die orientalische Frage gelöst werden müssen, und die orientalische Frage beinhaltet natürlich auch die Palästinafrage. England, das eine formelle, politische Note an den Zionistenkongreß gerichtet hatte […] England wird die entscheidende Stimme bei der endgültigen Lösung der orientalischen Frage haben, und Herzl hat es als seine Pflicht angesehen, wertvolle Beziehungen mit dieser großen und fortschrittlichen Macht zu unterhalten. Herzl weiß, daß wir vor einer gewaltigen Umwälzung der ganzen Welt stehen. Bald wird vielleicht eine Art Weltkongreß einberufen werden müssen, und England, das große, freie und mächtige England, wird dann das Werk fortsetzen, das es mit seinem großzügigen Angebot an den Sechsten Kongreß begonnen hat. Und wenn Sie mich jetzt fragen, was Israel in Uganda zu suchen hat, dann lassen Sie mich Ihnen als Antwort […] die folgenden Worte sagen, als ob ich Ihnen die Sprossen einer Leiter zeigen würde, die immer weiter nach oben führt: Herzl, der Zionistenkongreß, der englische Uganda-Vorschlag, der künftige Weltkrieg, die Friedenskonferenz, auf der mit Hilfe Englands ein freies und jüdisches Palästina geschaffen werden soll.“

(Max Nordau auf dem 6. Zionistischen Kongreß in Basel, August 1903) [13]

Wahrlich prophetische Worte, mit großer Sicherheit ausgesprochen – einschließlich der Vorhersage, daß es ein „Weltkrieg“ sein werde und kein begrenzter europäischer Konflikt, und der definitiven Festlegung auf England – was manche zu der Spekulation veranlaßt hat, daß die Zionisten nicht etwa Hellseher waren, sondern langfristig und aktiv den Weltkrieg ein Jahrzehnt später mitplanten und provozierten. Jedenfalls hielt sich die Zionistische Weltorganisation, als der Krieg tatsächlich ausbrach, anfangs noch die Türen zu allen Kriegsparteien offen, aber mit Fokus auf England und Deutschland.

Tatsächlich hatte auch das Deutsche Reich schon zu Kriegsbeginn mit den deutschen Zionisten in Verhandlung gestanden, gemäß derselben Formel „internationale jüdische Unterstützung für Deutschland, und deutsche Unterstützung für den Zionismus in Palästina“. Ludendorff sagte im Umfeld der Versailler Verhandlungen, dies sei daran gescheitert, daß die Reichsregierung darauf bestanden hatte, die Amtssprache Palästinas müsse dann Deutsch sein.[14]

Jüdischer Antizionismus

Jedoch hat die Mehrheit der Juden – das sei nochmals betont – damals diese Einstellung und Pläne der Zionisten nicht geteilt, ja vehement abgelehnt! Auch das geht aus der Schilderung Malcolms deutlich hervor, der über den heftigen, ja erbitterten Widerstand gegen seine Pläne seitens führender britischer und französischer Juden und ihrer antizionistischen Organisationen sehr erstaunt war! Auch deutsche Verbände wie der Allgemeine Deutsche Rabbinerverband und die Israelitische Kultusgemeinde München hatten den Zionismus abgelehnt, weshalb der erste Zionistische Kongreß auch nicht, wie ursprünglich geplant, in München stattfinden konnte, sondern seine Stätte in Basel fand.

Die meisten etablierten Juden wollten nicht in einen künstlichen Gegensatz, nicht in eine Außenseiterposition zu den Völkern und Gesellschaften gestellt sein, in denen sie lebten; sie sahen in dieser radikalen Politisierung des Judentums eine große Gefahr für Ansehen und Wohlergehen der Juden in allen Ländern – sehr zurecht, wie wir wissen –, und einen Bruch mit der religiösen Definition und den Geboten des Judentums. Sowohl reformierte wie auch orthodoxe Juden verstanden Judentum in erster Linie religiös-spirituell-kulturell und sahen sich ansonsten äußerlich als integraler Bestandteil der Völker und Länder, in denen sie lebten. Als ihre Heimat und Nation betrachteten sie also sehr wohl England, Frankreich, Deutschland, Amerika; aber sicher nicht Palästina.

Bei den orthodoxen Juden kommt hinzu, daß es gemäß der Thora dem Moschiach (Messias) vorbehalten ist, die zerstreuten Juden aus der ganzen Welt in das gelobte Land Eretz Jisra’el (Land Israels) zurückzuführen und den Tempel in Jerusalem wieder aufzurichten. Sie nannten daher den Zionismus – aufgrund seiner Absicht, Israel in Palästina mit machtpolitischen Mitteln zu errichten – eine Gotteslästerung.

Der im Anhang abgedruckte offene Brief zweier großer britisch-jüdischer Organisationen vom 17. Mai 1917 in The Times legt davon beredtes Zeugnis ab und zeigt die Gefahren eines politischen Judenstaates in Palästina und eines rassischen Begriffs von Judentum in einer Klarheit auf, die im Rückblick prophetisch genannt werden muß. Daraus: [Hervorhebung von mir]

„Die emanzipierten Juden in diesem Land […] betrachten das Judentum als ein religiöses System, mit dem ihr politischer Status nichts zu tun hat, und sie bekunden, daß sie sich als Bürger der Länder, in denen sie leben, voll und ganz mit dem nationalen Geist und den nationalen Interessen dieser Länder identifizieren.

Daraus folgt, daß die Einrichtung einer jüdischen Nationalität in Palästina, die auf dieser Theorie der Heimatlosigkeit beruht, in der ganzen Welt den Effekt haben muß, die Juden zu Fremden in ihrem Heimatland zu stempeln und ihre mühsam errungene Position als Bürger und Staatsangehörige dieser Länder zu untergraben.“

(Offener Brief vom 17.05.1917 in The Times, gezeichnet David L. Alexander, Board of Deputies of British Jews / Claude G. Montefiore, Anglo-Jewish Association. )

Aber die britisch-jüdischen Vereinigungen ließen ihren Widerstand rasch wieder fallen. Da war erstens der Druck der Realpolitik: die Alliierten hatten den Krieg vor dem Eingreifen der Zionisten faktisch schon verloren, Großbritannien war ihnen also etwas schuldig und hatte auch erlebt, wieviel Macht sie ausüben konnten – wer ihnen entgegenstand, galt nunmehr als Verräter an der britischen Sache und Sympathisant des Feindes. Zweitens war da in Großbritannien neu entflammter Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und insbesondere der durch jahrelange Propaganda geschürte Deutschenhaß, der sich nun auch gegen einheimische Juden mit deutscher Abstammung oder deutschen bzw. fremdländisch klingenden Namen richtete, was die mühsam errungene Integration der britischen Juden gefährdete[15] und den Zionisten in ihrem Kernargument – wir sind und bleiben heimatlose Fremde – in die Hände spielte, wie auch wenig später in Deutschland. Und da war drittens die Lockung des Heiligen Landes Palästinas, das für das Judentum ähnlich zentrale Bedeutung hat wie Rom für den Katholizismus oder Mekka für den Islam. Die Antizionisten wurden von ihren zionistischen Religionsgenossen als „Assimilationisten“ und Verräter an dieser zentralen religiösen Frage verunglimpft und verloren rasch an Boden.

Ab 1919: Zionisten repräsentieren „die Juden“

Dieses jahrzehntelange Tauziehen um Deutungshoheit, politische Macht und Definition von Judentum konnte die Fraktion der Zionisten durch ihre politischen und militärischen Erfolge und die Verbündung mit dem angelsächsischen Macht- und Medienapparat für sich entscheiden.

Die Zionisten gaben stets und fälschlicherweise vor, für alle Juden zu sprechen – schon seit Gründung der Bewegung, wie die obigen Zitate von Weizmann und Mandelstam beispielhaft zeigen. Somit konnten sie jede Gegnerschaft ihres ideologischen Nationalismus, ihrer Ränke, ihrer Weltimperiums-Pläne als Judenfeindlichkeit, als Rassismus, sogar widersinnigerweise als „Anti-Semitismus“ brandmarken, und tun das bis heute unaufhörlich. Ihre Gegner fielen auf diesen Trick leider zumeist herein und setzen ebenso den Zionismus mit dem Judentum gleich. Dadurch wurde die von den Zionisten als Motiv angeführte Judenfeindlichkeit der Nationen, soweit es die leidtragenden deutschen, türkischen und arabischen Länder betraf, nach 1919 allmählich zu einer selbsterfüllenden Behauptung.

Spätestens nach dem Erfolg der Staatsgründung Israels in Palästina 1948 wurden antizionistische Strömungen und Stimmen in der Weltöffentlichkeit praktisch bedeutungslos. Fortan galten die Juden fraglos als eigenständiges Volk (je nach Ansicht und Definition auch als eigene Rasse oder Ethnie) und die Zionisten als ihre Weltvertretung, durch die israelische Regierung und unzählige loyale NGO-Lobbyorganisationen. Im Bewußtsein der Weltöffentlichkeit wurde der Zionismus allmählich mit dem Judentum deckungsgleich.


[1]     Einen guten Eindruck davon vermittelt Martin Bubers wunderbare Geschichtensammlung „Gog und Magog“ [BUB] für die Chassiden und die „Schtetel“-Kultur im Gebiet Lemberg, und Gustav Meyrinks klassischer Roman „Der Golem“ für das Prager Ghetto.

[2]     Die ersten Erfolge zeichnete die Bewegung in Frankreich, wo die Nationalversammlung am 27. September 1791 den Juden die volle Staatsbürgerschaft zusprach.
Die Entwicklung jüdischer Emanzipation in Großbritannien verlief erst verzögert, dann jedoch parallel zu Preußen. 1846 hob der Religious Opinions Relief Act die meisten Beschränkungen auf. 1858 wurde Lionel de Rothschild erster Jude im Parlament, ab 1871 standen den Juden auch universitäre Ämter offen.

[3]     Binyamin Zeʾev Theodor Herzl (*1860 in Pest/Österreich, heute Budapest/Ungarn als Herzl Tivadar, †1904 Niederösterreich) war Vordenker und Mitbegründer des Zionismus, Jurist in Wien und Salzburg, Journalist in Paris.

[4]     von „Zion“, dem Namen des Tempelberges in Jerusalem und Bezeichnung für den Wohnsitz JHWHs

[5]     Walther Rathenau (*1867 Berlin; †1922 Berlin), deutscher Jude, Industrieller, Organisator der Kriegswirtschaft im 1. WK, Politiker, wurde im Februar 1922 Reichsaußenminister. Sein Vater Emil war Gründer der AEG Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft.

[6]     Albert Ballin (*1857 Hamburg, Selbstmord 1918 Hamburg) war Mitgründer und Generaldirektor der Hamburg-Amerikanische Paketfahrt-Aktien-Gesellschaft (HAPAG). Begründer der Kreuzschiffahrt. Setzte sich sehr für Frieden mit Großbritannien ein.

[7]     Gilam Atzmon [ATZ] S. 74

[8]     Einige Quellen, die für asiatische Abstammung der Ashkenasim sprechen:
[ELH] [KOE] [FRA] [FRE1] [SAN] https://www.wir-juden.com/ethnien-chasaren

[9]     Präsident während der Kriegsphase von 1911 bis 1921 war der Berliner Professor für Botanik Otto Warburg (*1859 Hamburg †1938 Berlin), danach wurde die Zentrale nach London verlegt und Chaim Weizmann übernahm die Präsidentschaft. Warburg wurde ab 1920 Leiter des Instituts für Landwirtschaft und Naturkunde in Tel Aviv, behielt aber seinen Berliner Wohnsitz.

[10]   Die Mark fiel gegenüber dem Dollar bis 1920 auf ein Zehntel des Wertes von 1914, im Oktober 2021 ein Hundertstel, im Oktober 1922 ein Tausendstel. Im Juli 1923 mußte man schließlich eine Million Mark für einen einzigen Dollar zahlen, bzw. der Dollar hatte astronomische Kaufkraft – und die jüdischen Bankiers hatten Dollar.

[11]   Max Nordau (29.07.1849 als Maximilian Simon Südfeld in Pest/Österreich, heute Budapest/Ungarn, †22.01.1923 Paris), war Freund und Hausarzt Herzls, Mitgründer der Zionistischen Weltorganisation, politischer Journalist und Autor, lebte ab 1880 in Paris, war als Sozialdarwinist starker Verfechter eines europäischen Rassismus und Kolonialismus. Er verfasste das Basler Programm von 1897, die Grundsatzerklärung der ZWO. Leiter der ZWO 1904-05.

[12]   Gespräch zwischen Herzl und seinem Freund Littman Rosenthal, publiziert von Rosenthal in der American Jewish News 07.03.1919, zitiert in [JOH] übersetzt von mir.

[13]   publiziert von Littman Rosenthal  unter der Schlagzeile „When Prophets Speak“ in der American Jewish News 19.09.1919, zitiert hier, Übersetzung von mir. https://www.loc.gov/item/sn89070091/

[14]   Quelle: Wickham Steed, damals Herausgeber der Times, in seiner Autobiographie „Through Thirty Years“, zitiert von Malcolm. [MAL]

[15]   Bei Schneer [JSN] in Kapitel 10 „The Assimilationists“